Leseproben

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Projekte Verlag Hahn (2022)

Paul Paul

Absitzen

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Absitzen (1.Buch)

Schicksal, wie bist du so staubig


Da Hendrich Bauer seinen Beruf nicht heiraten konnte, lebte er mit ihm in wilder Ehe. Hier Frau und Sohn. Dort Kurbel und Schranke. Böse Zungen behaupteten, der Schrankenwärter sei mit einer Eisenbahneruniform zur Welt gekommen. Hätte Hendrich mit dem Bahnwärterhäuschen geschlafen, damit wären die Menschen später zurechtgekommen. Aber, dass Hendrich Bauer, der Übervater aller Schrankenwärter, in dieser Nacht am Arbeitsplatz die Augen schloss, das war unfassbar. Der stets Wachsame und Perfekte, nie einen Zug Vergessende, wollte lieber tot gewesen sein, als das unabwendbare Ereignis zu sehen, was vor seinen Augen passierte.

Als er am späten Abend die Wohnung verließ, spürte Hendrich noch keine Schicksalswehen. Auch auf dem Weg zur Nachtschicht war alles noch normal, doch mit Einbruch der Morgendämmerung trommelte das Grauen so heftig an seine Schläfe, dass er meinte, den Verstand verlieren zu müssen. Und nun stand Hendrich auf der Brücke, hoch über dem Fluss, um sein Leben zu fluten. Er musste vor dem mächtigen Lastkahn im Wasser sein, dann wäre Schluss. Im Strudel der Schiffsschraube würden alle Probleme klein und nichtig werden. Zögern brachte nichts, es musste sein. Zu spät löste sich Hendrich vom Geländer. Er zählte die Sekunden: „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vier.“

Sah so der Tod durch Ertrinken aus? Schmeckte er staubig und fühlte er sich warm an? Ganz am Ende vielleicht, aber wer wusste das schon? Bis zum Nabel steckte Hendrich in einem Aschehaufen. Der Schubkahn transportierte die staubige Ladung samt Hendrich zur Deponie. Vorerst Endstation. Hendrich musste dem Leben nachgeben. Zu diesem frühen Zeitpunkt der Geschichte ist es noch zu verstehen, an welcher Stelle Hendrichs Schicksalsweg den Anfang nehmen musste, und warum er auch zu einem schrecklichen Ende führen wird.


Schlaflos in einer Weltstadt


Sieben lange Stunden versah der Bahner ohne Vorkommnisse seinen Dienst. Fahrplanmäßig erwartete Hendrich vor Dienstschluss zwei Züge, einen Güterzug und den Interzonenzug aus Warschau. Dieser überquerte bei Görlitz die polnische Grenze und fuhr weiter über Dresden-Leipzig-Erfurt nach Eisenach. Für die Eingesessenen endete die Fahrt zwei Stationen vor dem Schlagbaum. „Bürger ohne gültiges Ausreisevisum haben den Zug unverzüglich zu verlassen“, schallte es aus den Lautsprechern vor dem Grenzübergangsbahnhof.

Soeben hatte ein Güterzug Hendrichs Schrankenposten passiert. Bis zum Interzonenzug klaffte auf dem Plan eine zweiunddreißigminütige Pause. Die Zeit nutzte Hendrich für einen seiner Ausflüge. Er strich auf dem Diensttisch eine abgegriffene Ausgabe der „Wochenpost“ glatt und legte die „Armeerundschau“ obenauf. Seine Frau Christel hatte sie ihm in die Tasche gesteckt. Auf der Rückseite des Magazins präsentierte sich das Model des Monats. Hendrich stand eher auf herbe Schönheiten, auf jene, die ihre Vorzüge erst auf den zweiten Blick preisgaben. Die Dame posierte vor einem Leuchtturm. Der Bahner Hendrich ahnte im Turm ein Symbol für Standhaftigkeit und Manneskraft. An der Stelle verwischte sich die Spur im Diesseits. Die Augen des Betrachters lösten sich vom Bild des Models. Traumsequenzen flimmerten im Kopf. Der Leuchtturm versank im Meer. Statt der Wellen wogten Straßen, Plätze und Parkanlagen. Aus dem Strandhafer wuchsen Sträucher und Bäume. Dünensand wehte über die Dächer von Paris und aus deren Mitte ragte der Eiffelturm. Die Stadt der Liebe hatte vom Bahner Besitz ergriffen. Hendrichs dunkelblaue Uniform wandelte sich in einen Frack. Die Dienstmütze wuchs hoch zum Zylinder. Aus dem Signalhebel entstand ein Gehstock. Statt der zwei Salamibrote, welche auf dem butterverschmierten Pergamentpapier lagen, sah Hendrich ein Paar Glacéhandschuhe. Der Traumzug verlangsamte die Fahrt und fuhr in den Bahnhof Paris Gare de l` Est ein. Gleise und Halle gönnten der Metropole keine Nachtruhe. Lautsprecheransagen, schnaufende Dampfloks, ratternde Gepäckkarren und das Gewimmel der Reisenden verliehen der Station ein unverwechselbares Flair. Monsieur Hendrich Bauer entstieg dem Waggon des „Orient Express“. Jenes Zuges, dessen Luxus im Jahre 1883 erstmals den Orient mit Paris verband. Hendrich war von den vornehmen Herren nicht mehr zu unterscheiden. Ihm standen die Türen aller Salons der Weltstadt offen.

Während Hendrich seinen Träumen folgte, bot sich vor dem Schrankenwärterhäuschen ein weniger entspanntes Bild. Leichte Schwingungen der Gleise kündigten den nahenden Interzonenzug an. Er galt als Exot unter den Zügen des kleinen Landes. Die andauernden Vibrationen glichen den REM-Bewegungen hinter Hendrichs verschlossenen Augenlidern. Von der Decke her flackerte das Licht. Die einzige Leuchte im Raum schien mit Hendrich und einem Unheil kündenden Medium in Kontakt zu stehen. 


Der Urknall


 Eine solche Erscheinung gab es schon im Jahr 1947 bei Hendrichs Geburt. Er, das verbindende Element zwischen Vater und Mutter sollte schnell das Licht der Welt erblicken. Weder die Hebamme noch die Schwangere bekamen eine Gelegenheit, auch nur ratlos dreinzuschauen. Wie aus heiterem Himmel baute sich im Bauch der angehenden Mutter Druck auf, vergleichbar mit dem übermäßigen Genuss von Federweißem. Er brodelte kurz und heftig. Dann kündigte ein pränataler Trommelwirbel das Kind an. Ähnlich dem Donnerschlag einer 122 mm Feldhaubitze wurde ein Eisenbahner in die Welt gefeuert.

Die Arme des winzigen Erdenbürgers waren angelegt und die blassrosa Händchen zu Fäusten geballt. Der Blick starr. Ein Menschenkind mit angeborener militärischer Haltung war unterwegs. Reflexartig griff die Hebamme zu. Sie schnappte das Kleine und verletzte es nicht. Der sichere Griff und die kurze Nabelschnur verhinderten, dass der Winzling über das Ziel hinausschoss. Während der ballistischen Vorwärtsbewegung gab das Kind undefinierbare Schreigeräusche von sich. Ein heulendes schääääaahh, als würde eine Lok am Fenster vorbei rasen. Die Geburtshelferin wandte ihren Kopf über die Schulter und verkündete der Mutter: „Es issen een‚ Bähnrich‘. Da freiit sich de Vadder!“ Ohne über diesen Satz Gedanken zu verlieren, sank die Entbundene ins Kissen. Auf ein weißes Blatt einer Kladde wurde notiert:

Geburtsort:   Bad Lauchstädt

Geburtstag:   12.02.1947 

Geburtszeit:   17:00 Uhr       

Geschlecht:    männlich

Gewicht:   3333 Gramm (geschätzt) 

Name:            Bauer

Vorname:      Bähnrich

Besondere Kennzeichen:  blaue Augen

Die Mutter hielt ihr Kind im Arm. Der Kleine reckte seine blassen Ärmchen dem Fenster entgegen. Von beiden ging ein heller Strahl aus. Weder Mutter noch Sohn waren die Ursache für diese Erscheinung. Der Lichtstrahl drang von außen herein, bahnte sich den Weg durch die streifige Fensterscheibe und zeigte wie ein Finger auf das Bähnrichbaby. Erst vor dem Neugeborenen machte der Strahl halt, so als hadere er noch mit seinem Schein.

Tagtraum der Mutter: Der neu geborene Körper war in eine Uniform aus dunkelblauem Tuch gehüllt. Statt der Haare trug das Wurm auf dem Köpfchen eine gehäkelte Tschapka. Sorgsam waren unter dem Kinn zwei Wollkordeln verschnürt. Dort, wo normalerweise die Nabelschnur das Zentrum des Neugeborenen bestimmt, hielt ein breiter Lederriemen das Uniformjäckchen zusammen.


 Genau um 17:00 Uhr stand der Vater des Neugeborenen Bähnrich Bauer, alias Hendrich im Dienstraum des Stellwerks und brachte seine Uniform in Ordnung. Für die Dienstübergabe war alles vorbereitet.

Plötzlich zuckten aus dem Schirm der Dienstlampe grelle Blitze. Begleitet wurde diese Erscheinung von einem Surren und Knistern. Den Vater in spe durchfuhr ein Gedankenblitz. Der Kreißsaal! Vor lauter Eifer hätte er fast die nahende Geburt seines ersten Kindes verdrängt. Aufgeregt zog er die Taschenuhr hervor. Da passierte es, das Uhrwerk entglitt ihm, fing sich an der Uhrkette und prallte gegen einen Stellhebel. Oberhalb der Fünfuhr-Position splitterte Emaille ab. Kurz darauf läutete das Telefon.

Als er im Krankenhaus eintraf, war sein Sohn bereits eine halbe Stunde auf der Welt. Die Hebamme gratulierte zum Stammhalter. Durch ein Fenster in der Tür betrachtete der Vater mit verhaltener Freude das blaue Kind. Auf einem Schildchen stand mit Kopierstift Bauer, Bähnrich geschrieben. Der frischgebackene Vater traute seinen Augen nicht; diesen Namen hatte er nie gehört. Die Mutter hatte vergessen, dem Kind einen Rufnamen zu geben. Welch ein Omen.

„Sein Name sei Hendrich“, brachte der Vater später heraus. Denn Hendrich ist einer jener Vornamen, bei denen die Buchstaben D und R genau in der Mitte aufeinanderfolgen. So wie Alpha und Omega für Anfang und Ende standen, galten dem Vater D und R als Signum für „Deutsche Reichsbahn“.


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Absitzen (2.Buch)


Arschbombe ins Panoptikum


Gerade noch im Zugabteil und kurz darauf schon auf der Ladefläche eines armeeeigenen LKWs. Robert spürte den Sog der Kaserne. Vor dem Schlagbaum hielt das Fahrzeug an. Durch einen Sehschlitz in der Plane sah Pasch über die graue Fellmütze des Fahrers hinweg. An der Einfahrt zur Kaserne wurde die Schranke geöffnet. Der Mannschaftstransporter überfuhr die Trennlinie zwischen Zivil- und Militärleben. Wie sich herausstellte, ein kleiner Schritt für ihn, aber ein großer Rückschritt im Leben eines Menschen.

Ab sofort lag das, was auf den Rekruten zukam, nicht mehr in seinen Händen. Das plappernde W 50 Motorengeräusch verstummte. Blechern krachte die Planke vom Laderaum herunter. Die Neuen kauerten auf Kante der Ladefläche wie vor einem Fallschirmsprung ins Ungewisse. Robert hielt die Spitzen der Jesuslatschen schräg nach unten über den Rand der Ladeplanke. Der große Zeh des rechten Fußes reckte sich vor, als wolle er am Ostseestrand vorsichtig das Wasser erkunden, um festzustellen, ob man schon baden kann. Kalt und aufgebracht war die See, das ahnte er, ohne es zu wissen. „Absitzen“ erscholl das erste trockene Kommando auf fremden Boden. Übersetzt hieß es: „Spring!“ Seit dem Zeitpunkt redete man leise und empfing lautstarke Befehle. Ohnmacht sickerte in Pasch ein. Mann forderte nicht von ihm, man nahm- und das ganz selbstverständlich. Sie griffen zu, bedienten sich an seiner Person wie im Konsum. Schwer zu beschreiben was es ausmachte. Es war die Art der Behandlung und des Umganges mit den Einberufenen. Unter Dauerbeschallung und mit entsprechendem Nachdruck gelangten die Neuen in eine zum Empfangssaal umfunktionierte Sporthalle. In dieser Halle stellte jeder Rekrut eine Persönlichkeit dar. Alle hatten ihr privates Leben, ihren Stolz und kleine Geheimnisse.

Wie Robert waren die jungen Menschen heute aufgestanden, hatten sich im Spiegel betrachtet. Dieses Gesicht galt es zu wahren. Ein hoher Anspruch, wenn man von der ersten Sekunde an schikaniert und angebrüllt wurde. Unentfliehbare Öffentlichkeit war es, mit der es gelang, den Neuen zu zeigen, wohin der Weg führte. Ihnen zu verdeutlichen, dass es aussichtslos war, sich dem zu widersetzen. Mehr und mehr wurde man für vollkommen fremde Personen durchsichtig. So gut es irgend möglich war, versuchte jeder sich zu erhalten und gleichzeitig dem Geforderten gerecht zu werden. Brüllen, Anschreien, Gewalt durchscheinen lassen. Für alle hör-, fühl- und sichtbar. Wie ein Schattentheater. Dessen Akteure sah man zwar auf der Mattscheibe, doch wer dort stand, blieb dem Auge verborgen. Was war das? War das hier der unendliche Faden, aus dem die älteren Kumpel ihre Armeegeschichten webten? Hier ging was nicht mit rechten Dingen zu. Stellte dieses uniforme Panoptikum tatsächlich den Beginn des Ehrendienstes dar? Frösche und Schmetterlinge Erfahrungen trugen die wenigsten in ihrem Gepäck.

Den einzigen Halt bot momentan nur die Griffe ihrer prall gefüllten Reisetaschen. Sie klammern sich an ihr ziviles Leben wie das Herbstlaub an die Zweige der Bäume. Es war eine Frage der inneren Stärke, ob und wann jemand losließ. Um, am Boden liegend, mit den anderen zusammengerafft und wie welkes Laub in einen Sack gestopft zu werden. Eigenwillige Charaktere berührte man empfindlich mit dem Entzug des Personalausweises. Erst ergriffen sie den Ausweis, dann den Menschen. Den Eitlen schor man die Köpfe fast kahl. Alkoholisierte schlugen Schreihälse mit Worten zusammen, wie sie es nie erlebt hatten. Schwache erreichte man mit übermäßiger Dankbarkeit. Mittels ausgegorener Taktiken bemächtigte sich der Apparat jedweder Persönlichkeit. Nach kurzer Zeit waren alle Neuzugänge mit roten Turnhosen bekleidet.

Die Zivilsachen wurden eilig in mitgeführte Pappkartons verpackt und auf die Heimreise geschickt. Jeder wurde untersucht, mehrfach geimpft und anschließend in einen braunen Trainingsanzug gepfropft. Wie ein Staubsauger sog eine, zum Sack geknöpfte Zeltbahn die empfangenen Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände auf. Die Jesuslatschen tauschte Robert bei einem unbekannten Soldaten gegen schwarze Turnschuhe. Ein Froschhandel, wie ihn Siegfried Lenz in „Suleiken“ beschrieb. Nach achtzehn Monaten wird er die Treter wiederbekommen. Ob Robert dann wissen wird, warum er vor achtzehn Monaten den Frosch gegessen hatte?

Was hier ablief, konnte keiner erklären. Erfahren musste man es. Mit eigenen Augen sehen, was es zu erkennen gab. Das feldgrüne Küken, welches vor einem halben Jahr aus demselben grünen LKW geschlüpft war, stand breitbeinig da, und pisste dir ans Bein. Die Brut war aufgegangen. Wo Beistand angebracht wäre, lebte Niedertracht und Häme. Die ausgleichende Gerechtigkeit garantierte dafür, dass den Kreaturen, die so handelten, eine Ehrenrunde sicher war. Gewiss nicht in der Kaserne, jedoch todsicher im weiteren Leben. Versprochen. Du Schreihals, wer hatte dich dermaßen zugerichtet. War es deine Mutter, die einen Sprachfehler hatte und nicht nein sagen konnte und nie den Richtigen fand? War es dein Vater, den du vom Hörensagen kanntest und vor dem du dich schämtest? War es dein Großvater, für den Härte den Menschen erzog? Oder waren es die Nachbarskinder, die dich nicht dazugehören ließen? War es dein Lehrer, der dir auf die Schliche kam? War es die Wut auf die ganze Blase, von der du nur Hohn und Spott erntetest, wenn du ihr gegenüber standest? Du Handlanger für die Karrieren anderer.

In sich gekehrte Undiszipliniertheit war das Stück Freiheit, welches Robert retten wollte, um seine eigene Disziplin nicht zu verlieren.  Tagtraum: Pasch stand an seinem Grab und begrub für immer die Jugend. Unten in der ausgehobenen Grube wimmelten fahle Spukgestalten umeinander. Erstaunlicherweise herrschte trotz des Gewimmels, Stille. Er merkte, dass ihn hier oben der Tod am Kragen gepackt hatte. Diese Hand ließ ihn nicht los. Rund um die Uhr versuchte sie, ihn hinabzuziehen. Manchmal spürte er klebrige Erde an den Händen. Ein letzter Gruß? Dann sank die Hand kraftlos nach unten, öffnet sich und die Erdkrumen fielen auf seine mit dem Beton verwachsenen Stiefel. Mit einer Blüte in der Hand stand Robert ganz vorn. Er zupfte die Blütenblätter ab und warf sie einzeln in das Loch. Wenige von denen da unten schauen auf. Sie wussten, dass oben einer steht, der seine Seele nicht am Kasernentor abgegeben hatte. Mit Schmetterlingen im Bauch hatte Robert sich am Wochenende von Sirah verabschiedet, als ob er mal kurz um die Platte ziehe. Ihn beschlich die Ahnung, dass die bunten Falter Fahrt aufnahmen, um am Ende ungebremst gegen eine Wand zu schmettern.

Weder Form noch Ausmaße des Ganzen waren bekannt. Robert spürte, dass die unbekannten Kräfte bereits Besitz von ihm ergriffen hatten. Der Spiegel im Spiegel Seit einer Stunde war Robert Andreas Pasch im Besitz eines Wehrdienst-Ausweises. Von nun an setzte man jedem an seine Person gerichteten Befehl die Anrede „Soldat Pasch“ voran. Unbekannte brüllten nur „Genosse Soldat!“ Die ihm zur Taufe gegebenen Vornamen versanken im alles verschlingenden Sumpf der Akten. Wie in einen Taschenspiegel schaute er auf das schwarz-weiße-graue Passfoto im Dienstausweis, es sah ihm nicht mehr ähnlich. Fremd kam Robert sich vor, sein Erscheinungsbild hatte er sich jünger vorgestellt. Ein Werbeslogan verhieß bislang, „Schönheit kommt von Innen“, aber was, wenn da drinnen nichts mehr war? Jeder Mensch ist mehr als sein Bild. Er ist Bewegung, Gefühl, Sprache, Körper, Geist. Fotografieren heißt, mit Licht zeichnen. War dem Zeichner bei seiner heutigen Arbeit die Hand ausgerutscht? Nein, er hatte Paschs Ist-Zustand ans Tageslicht gebracht. Robert war von diesem ersten Tag gezeichnet. Kaum zu glauben, was das Licht hier zum Vorschein brachte. Hektische Flecke an den Wangen. Über dem Kehlkopf öste sich der Metallhaken der Uniformjacke fest. Dieser gebogene Metalldraht hinderte ihn am freien Atmen und knebelte Robert an den Rand des Erstickens. Genau wusste er beim Einhaken des Burschen nicht, hat er sich in seiner Öse verhakt oder hing er an einer Halssehne fest. Fakt war, dieses kleine Miststück von Haken hatte gemäß Dienstvorschrift immer geschlossen zu sein. Warum?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Direkt nach der Fotoschau hatte Pasch unbedacht den Haken geöffnet. Urplötzlich tauchte vor ihm ein vollmondgroßes Gesicht auf. Erschrocken hielt Robert inne und harrte den Bruchteil einer Sekunde aus, denn er konnte mit dem Gegenüber nichts anfangen. Mitten in eben dieser Millisekunde verformte sich die Mondoberfläche zu einer Fratze und schrie aus voller Kehle. „Haken zu!!!“ Robert ging das alles zu schnell. Er wünschte sich, auf dem Mond zu sein, dort oben herrscht absolute Stille. Einem Plakat entnahm Soldat Pasch, dass der Mann im Mond den Dienstgrad Fähnrich trug. Was immer das auch bedeutete. Trotz dreifacher Schur sträubten sich Roberts Haare in alle Richtungen. Paschs Konturen ließen sich mit keiner Vorschrift abgleichen. Der Körper widerstrebte diesem Ungemach. Da sämtliche Organe und die Aufmerksamkeit zurzeit darauf ausgerichtet waren, Befehle zu empfangen und auszuführen, kam die Seele zu kurz. Ihr blieben als Ausdrucksmitte allein die auf dem Kopf verbliebenen Haare. Im Spiegelbild der Pendeltür sah Robert den Soldaten Pasch erstmalig in Lebensgröße. Von der Last einer gebündelten Plane gebeugt drehte er den Kopf zur Seite und fand sich nicht mehr.

Während noch immer Zivilisten von Ladeplanken sprangen, sammelten sich am Ausgang der Sporthalle frisch eingekleidete Rekruten. Ein Pappschild mit der Bezeichnung der zugeteilten Einheit war derzeit Roberts einziger Halt. Um den Boten der Kompanie scharten sich weitere fünf Geschorene. Umgehend forderte Hermes sie auf, die Ballen mit der komprimierten Ausrüstung zu schultern und ihm ohne Tritt zu folgen.


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Absitzen (3.Buch)


Marmelade bei die Pfannkuchen


Übergangszeit, was für ein gewaltiges Wort, der Frühling erinnerte an Vivaldi. Leicht wie Schmetterlinge landeten Wiebow, Klemmi und Pasch wieder in der Kompanie. Der Flur schien aber verwaist, roch jedoch vertraut. Die UvD-Lampe funzelte kraftlos die Hälfte des Tisches aus. Über den Gang schlurfte der aus dem ersten Diensthalbjahr rekrutierte Küchenbulle Fredi. Als MITROPA-Kellner lieferte er beste Voraussetzungen für diese anspruchsvolle Aufgabe „Na, ihr Zwischenhunde wird ja Zeit, dass ihr wieder auftaucht, hey?“, lautete seine überaus freudige Begrüßung. „Gut wieder hier zu sein, gut Euch zu seh ́n“, hätte Hannes Wader gesungen.

Die Stube „510“ war wie leergefegt. Hatte des Volkes Armee kein Volk mehr? Die EK-Betten von Feistel und Proll waren mit Schwarzdecken überzogen. Sie glichen Sterbebetten. Es hatte den Anschein, als ob jemand den Verstorbenen graue Laken über die Köpfe gezogen hätte. Wenn die Mannschaft von Übungen wieder auf die Stube kam, fühlte sich der Raum stets dumpf an. Heute war es anders. Die Rückkehrer erfuhren den Grund dafür. Der größte Teil der Soldaten, einige Offiziere und Hauptfeldwebel Bim waren zu einem Arbeitskommando abkommandiert. Weit weg, in einem Tagebau an der polnischen Grenze, dort wo sich Spieß und Fähnrich Gute Nacht sagten. Bim in der „Kohle“ zu wissen, bedeutete für die Freunde einen inneren Vorbeimarsch. Vom Leitpersonal hatte nur Fuchs die Übergangszeit überlebt. Derzeit bereitete er im Bataillonsstab die neue Session vor, hieß es. Als einziges Fossil der letzten Periode diente unermüdlich der Schreiber Kallifei. Ohne ihn ging hier gar nichts, meinte er.

Reflexartig holte Robert erst einmal Kaffeewasser und entgankerte den verwaisten Tauchsieder. Im Planensack befanden sich einige Teebeutel und der braune Keimbecher. Um diese zu bergen, fasste er den geknöpften Sack an beiden Zipfeln und schüttete ihn vor dem Spind aus. Hohl kollernd landete der Becher unter Prolls verlassenen Sarkophag. Es fiel Pasch nicht schwer, den unter dem Bett vor zu angeln, denn der EK war tot. Durch das offene Fenster schien die Sonne. Sturmfrei, mutterseelenallein auf der „510“, welch eine Idylle. Wann gab es das schon mal?

Wie abgesprochen kam Wiebow auf einen Tee vorbei. Vorerst durfte der Dienstalltag nicht auf die Bude, der hatte gefälligst draußen zu warten. Über die Ankunft vertrauter Gesichter erfreut, ließ sich Vierton auf der 510 sehen. Die drei begrüßten sich wie Schulfreunde nach den Sommerferien.

Während das Kommando in „Waffenruh ́“ sein Unwesen trieb, hatte Vierton im Regimentsklub einen Gönner gefunden. Der Offizier gestattete ihm, leihweise ein Saxofon mit in den Kompaniebereich zu nehmen. Ziel der Leihgabe war es, die Auftritte einer Regimentssingegruppe zu begleiten. Da er nicht mit der Restkompanie in der Kohle war, hatte der Lehrer genügend Möglichkeit zum Üben gefunden. Kurzerhand holte er das Instrument auf die Bude.

Der Tag war fortgeschritten und alle bei bester Laune. Schon wie er das Saxofon dem Futteral entnahm, war ein Akt. Er begegnete der Musik mit Würde und verlieh damit seinem Feingefühl Ausdruck. „Ein Stück zum Tee?“, meinte Vierton einladend, als spräche er zu Kaffeehaus Gästen. Dann doch eher Teehaus, denn auf dem Tisch standen drei kackbraune Plastebecher. Über deren abgewetzten Rändern hingen träge die Pappfähnchen der Teebeutel. Aus der eloxierten Wasserkanne ergoss sich heißes Wasser in die Kelche. Umgehend färbte sich der Becherinhalt glasig braun. Sebastian händelte und blies die „Zauberkanne“. Aus dieser entströmte das Evergreen „Tea for two“. Die Klappen des Saxofons formten die von Viertons Lunge freigegebene Luft in Klänge um. Schallwellen eroberten den Raum. Musiktöne wandelten sich augenblicklich zu Farbtönen. Broadwaymusik färbte die Wände bunt. Django Reinhard, Dave Bruback und Fips Fleischer und Ella Fitzgerald hatten das Stück jeweils auf ihre Art in die Welt gebracht. Heute tönte die eindringliche Melodie in einer engen Soldatenbude. Vom ersten Ton an berührte das Stück die Seelen der Anwesenden. In den Köpfen schwangen sie der Freiheit nach, welches sie in Waffenruh erlebt hatten. Federleicht wippten sechs erholte Knie im Takt. Free and easy, waren die Worte für den total entspannten Zustand. Auf diesen musikalischen Einstand folgte „Summertime“. Sebastian überraschte Robert mit diesem Wiegenlied aus Gershwins Oper „Porgy and Bess“. Er kannte dessen Janis Joplin Affinität. Der Song brauchte keine Ansage. Das war Blues und der kam aus den Eiern. Von einer Soundwolke umhüllt träumte jeder für sich. „Summertime and the livin ís easy Fish are jumpin ́and the Cotton is high...“ (Ella Fitzgerald)

Urplötzlich riss jemand brüllend die Tür auf. Was sonst. In den Siffbechern vibrierte der Tee. Ringförmige Wellen verwandelten die gefüllten Becher zu Seismografen. Ein letzter klarer Ton verließ die Öffnung des Saxofons, dann gefror selbst die Luft. Blitzartig kühlte der Tee auf Minusgrade. Das scheußliche Umfeld erfuhr einen ähnlichen Temperatursturz, wie das kleine Land ihn zum Jahreswechsel zuvor erlebt hatte. Die seismischen Muster waren zu ewigem Eis erstarrt. Vierton sprang auf wie ein Orchestermusiker beim Einsatz, das Mundstück noch an den Lippen. Pasch entfuhr ein kleinlautes „Achtung!“. Die Achtung galt der Musik, Gershwin und nicht zuletzt dem Interpreten. Keine Achtung empfand Pasch vor der schreienden Grimasse des Kompaniechefs. Aus dem oberen Drittel dessen Schädels stierte Robert ein blasses, von gelbbraunen Rändern umrahmtes, Augenpaar an. Der Lehrer und Wiebow standen vor dem feldgrauen Doppelstockbett, wie ein Pärchen, das flagrant erwischt worden war.

Gefühlsarm prügelte Fuchs mit Worten auf alle im Raum ein, als hätte er einen Knüppel im Mund. Sein Gesicht deformierte sich wie in einem Zerrspiegel. Die Wortfetzen: „Lärm, Innendienstvorschrift, Triola, Zirkusmusik, Tauchsieder, Kompaniebereich, Tagesdienstablaufplan, UvD und sofort!“, Waren für niemanden zu über- hören. Bei diesem lauten-Konzert überschlug sich mehrmals seine Stimme. Allein vom Zuhören brannte Robert das Gaumenzäpfchen. Tatsächlich hatte der KC das Saxofon als Triola beschimpft. Dieser uniformierte Blasebalg, der sonntags heimlich im Keller Trillerpfeife übte, blähte die Fuchswangen auf. Er bekam vor lauter Übereifer keinen Ton mehr raus. Besser wäre, Genosse Oberpfeifer würde in einer Backstube Marmelade in die Pfannkuchen blasen. Nach Luft schnappend stakte er oberzackig zur Tür und befahl, das Blasgerät sofort beim Schreiber abzugeben. Ebenso mechanisch wie hilflos entfuhr Pasch ein erneutes „Achtung!“. Der KC war weg, die Tür blieb demonstrativ offen.

Drei kackbraune Eisbecher erinnerten an den „Tee For Two“. Niemand brauchte Krieg in einem fernen Land. Der Kasernenalltag war Krieg und die Momente zum Luftholen nur Feuerpausen. Luft brauchen beide Seiten zum Leben. Ziel schien es zu sein, den Soldaten in den achtzehn Monaten dermaßen den Atem zu stehlen, dass sie bei der Entlassung nur noch auf halber Flamme kochten, dass die Seelen erkranken und sie nicht mehr Herr ihrer Sinne waren. Es wurde erwartet, in jedem Exoten einen Feind zu sehen, den es zu bekämpfen galt. Mit gesundem Menschenverstand war diesen Plänen nicht zu begegnen. Ein wacher Mensch erfasst sein Gegenüber intuitiv. Je mehr Tage hier verstrichen, umso klarer erschien das Bild. Klassenbrüder waren ebenso erdachte Gebilde wie Klassenfeinde. Niemand mochte ernsthaft an diese Mär glauben. Kam es darauf an, was Fuchs von Pasch hielt? Der kannte nicht mal Roberts Vornamen. Hatte er je mit dem Soldaten ein persönliches Wort gewechselt? Für den KC war Pasch ein uniformiertes Subjekt. Der Kompaniechef schätzte einzig seine Lieblinge. Die Schleimer, welche ihm täglich Informationen ins Ohr legten. Dienen nannten sie diesen Selbstbetrug. Wenn die jämmerlichen Zuträger ihm in beiläufigen Sätzen Bosheiten und Lügen einbliesen, empfing der Oberleutnant die Informanten stets mit einem Anflug von Konspiration. Was blieb ihm übrig, da er sich doch nur von einem Dienstzimmer ins andere hangelte. Der Tretmühle zu entfliehen, gelang ihm langfristig nur durch eine Beförderung.

Die Grafik „Das Gerücht“ von A. Paul Weber erkannte Robert als Synonym für dieses in allen Zeiten funktionierende Wesen. Er kannte das Flugwesen mit seinen großen Ohren, einer langen Schnüffelnase, runden blank geputzten Brillengläsern und einem verbittert zusammengepressten Maul. Unermüdlich fliegt dieses Gewürm vorbei an den Fenstern geometrisch exakter Wohnsilos, saugt den Müll den ihm die Münder, Ohren, Nasen und Augen der Fenstergaffer zutragen begierig auf, verdaut ihn kaum und wird immer länger und fetter. Gewiss entsteht ein Gerücht zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Alles, was ihm folgt, ist Fantasie. Deshalb kommt es auf jeden selbst an. Nur sich ist man Rechenschaft schuldig. Wer legt denn fest, wer gut oder schlecht ist? Sicher nicht dieser Kammerjäger aus der Werbeabteilung des Wehrpflichtkommandos.


Mit der Taigatrommel in sternlose Weiten


Mittelgroß war er, der Soldat Vredestein, dieser Soldat gab sich anders, an ihm erkannte man das Soldatsein. Er brauchte dafür keine Uniform. Vom ersten Tag an hatte er seine Bewegungsabläufe genormt. Sein Handeln und Tun verlief nach einer präzise berechneten Gleichung. Bei all den Verrichtungen behielt er eine militärisch- anmutende Haltung. Der Körper war unangestrengt nach vorn gebeugt, die werkelnden Hände nahmen in Ruhephasen eine selbst auferlegte Grundstellung ein. Die Lippen umspielt stets ein weises, asiatisches Lächeln. Einzig sein Haarschnitt stimmte mit dem exakten Erscheinungsbild nicht überein. SV leistete sich, um den schmalen Kopf zu kaschieren, einen Scheitel. Dessen Haarlänge entsprach nicht den Innendienstvorschriften, da das Haupthaar nach vorn fiel und die kräftigen Augenbrauen berührte. Deshalb kontrollierte er bei abgesetzter Kopfbedeckung die Bewegungsabläufe derart, dass man den Eindruck gewann, er wäre taub.

Gehörlos war er gewiss nicht und auch nicht blind, denn in seiner Freizeit beschäftigte er sich leidenschaftlich mit Modelleisenbahnen. Leib und Seele widmete er der Platte. Die wichtigsten Streckenpläne des Landes hatte er verinnerlicht. Daher war er es, der den Fauxpas des Fähnrich Bauer in seinem Schrankenhäuschen klein in klein nachvollziehen konnte. Aber es kam noch besser. Als bekannt wurde, dass der Bim heute am 12.02. Geburtstag hatte und allen Ernstes im Jahre 1947 geboren wurde, blitzte es in seinem gewissenhaft arbeitenden Gehirn. Die Nervenbahnen jagten Ströme hin und her. An den Synapsen gab es keinen Zweifel. Bims Geburtsdatum glich der Baureihe einer Taigatrommel, bis auf die letzte Ziffer. Nun war allen klar, wo Bauers Herz schlug, wie er tickte und woher er seine unbändige Kraft schöpfte. Bim-Bauer war eine personifizierte Taigatrommel, das Abbild der Ur-Diesellok des kleinen Landes.

Sein Schreiber Kallifei dagegen war in anderen Umständen, er ging mit einer neuen Nachricht schwanger. Wieder einmal hatte der Schreiber im Stab sein Ohr am rechten Platz. Daher konnte er Fuchs und Bauer zuverlässig versichern, dass ihnen eine Doppelbeförderung ins Haus stand. Diese Indiskretion schlug bei den beiden ein wie die Granate einer Feldhaubitze. Bim musste sich vorsehen, dass seine Taigatrommel nicht mit ihm durchging. Seit der freudigen Botschaft hatten die Brüllarien vom Fuchs an Schärfe eingebüßt. Sein Tonfall klang schon annähernd komplizenhaft, als wolle er sich bedanken und durfte es nicht. Selbst wenn er es dürfte, er konnte es nicht. Bims Gesichtszüge sprangen wieder auf die Gleise und schenkten ihm das dynamische Antlitz einer Diesellok. Volle Fahrt voraus hieß die Devise für die folgenden Tage.

Ausgerechnet am 1. März, dem Tag der Beförderung, war Robert als GUvD eingeteilt. Eine Freude, denn somit blieb ihm die Parade erspart. Vom Flurfenster aus schaute er wie auf eine Eisenbahnplatte direkt auf das muntere Treiben. Nachdem die Truppen sich auf den Ex-Platz formiert hatten, wurde es still, eine gespenstische Ruhe entströmte den Angetretenen. Die Stahlhelmlandschaft ergab in der Draufsicht das Bild eines riesengroßen Waffeleisens. Jeder Eisenhelm bildete eine ölige Noppe. Das Fenster zum Hof war geschlossen und Pasch wagte sich nur so weit nach vorn, dass seine Augen das Schauspiel ungesehen beobachten konnten. Es dauerte eine Weile, bis Robert in dem geordneten Chaos seine Mot-Schützen- Kompanie ausgemacht hatte.

Als hätte er den Blick gespürt, hob Bim-Bauer den Kopf. Ertappt, dachte Robert und verließ den Posten. Da die Kompanie auf dem Betonplatz herum stöckelte, war noch Zeit für ein Nickerchen. Genüsslich streckte Pasch sich auf dem Schwarzbett aus. Tagtraum: Die Soldatenstube vergrößerte sich scheinbar. Selbstständig verschoben sich die Wände. Bald gab es keine Stuben, keinen Flur und keine Dienstzimmer mehr. Die Waffenkammer löste sich auf, die unteren Etagen verschwanden. Übrig blieb ein riesengroßer Raum. Das Seltsame war, Pasch spürte einen Innenraum ohne Mauern.

Ein gleichmäßiges Stampfen von Stiefeln auf dem Betonpflaster unterbrach den befreienden Traum. Robert schreckte auf, verließ das Lager und bezog erneut seine Kanzel am Flurfenster. Im Stechschritt hackte die Truppe an der Tribüne vorbei. Im Anschluss daran nieselte der Belobigungs- und Beförderungsregen auf verdiente Anwesende nieder. Kompanien erhielten Ehrentitel, Bänder und Schleifchen. Offiziere bekamen Sterne, Uffze beschenkte man mit Balken und Soldaten ernannte man im Handumdrehen zu Gefreiten. Der Hals vom Oberleutnant Fuchs wurde immer länger, gleichzeitig schwoll die Brust an. Ihm überkam das Gefühl mit dem Zurrriemen des Helmes, die ganze Erde zu umspannen. Vor innerer Anspannung war alles unterhalb des Stahlhelms stahlhart. Punktgenau an der Stelle, wo der vierte Stern auf sein Schulterstück niedergehen sollte, begann es auf seinen Schulterblättern heftig zu jucken. Gleichzeitig überzogen sich die Wangen vom Fähnrich Bauer mit bäuerlicher Röte, unmerklich begannen seine Knie zu zittern. Wie ein Spießengel stand er da und erwartete die Huldigung, für seine jahrelangen Anstrengungen, den Drill zu revolutionieren. Er, der Erfinder der dreifach klappbaren Feldwandzeitung. Das Patent auf den Trillerpfeifen- Ultraschallpfiff in Symbiose mit dem irrigen Befehl “Kompanie!“ War noch in Arbeit. Fest wie das Drushba im Regimentsklub stand, dass er heute neben seinem Kompaniechef zum Überfähnrich ernannt werden würde.

Für die siamesischen Drilliche erlangte dieser gemeinsam erlebte Tag die Wertigkeit einer Hochzeit. Aus den Reihen der x.-MSK befahl ein Stabsoffizier den Schreiber Kallifei nach vorn. Ihn bedachte das Beförderungskommando mit einer Erhebung zum Stabsgefreiten. Seitdem Fuchs vom Spießschreiber erfahren hatte, dass er zum Hauptmann befördert werden sollte, sandte er umgehend ein dringendes Beförderungsgesuch für Kallifei an den Regimentsstab. Dem wurde stattgegeben. Von oben hagelte es Spangen und Orden, Danks vor der Front und Belobigungen. Des Weiteren beglückte man erlesene Genossen des Regiments mit Sonderurlauben, Fotos vor der Truppenfahne und Briefe an die Ehefrauen oder wenn nicht vor- handen, an die Betriebe. All das rief man öffentlich aus.

Nach vollbrachter Beförderungsarbeit ertönte wie ein Karnevalstusch aus dreitausendzweihundert Kehlen ein lautstarkes „Hurra, Hurra, Hurra!“. Jedes Hurra endete mit dem kürzesten A- Laut, den man sprechen konnte, gerade so von der Dauer eines Wimpernschlages. Nachdem der Laut das Stimmband passierte, war er bereits durch erneutes Luftholen abgewürgt. Dieses A war höchst unzivil, weil nicht zu gebrauchen. So etwas konnte nur befohlen werden. Dem letzten Hurra folgte Totenstille. Abgesehen von dem Gekrächz dreier Elstern, die sich um einen fetten Brocken stritten, herrschte auf dem Exerzierplatz für Sekunden eisige Ruhe.

Dreitausendzweihundert Anwesende waren nicht fähig, die Pein zu ermessen, welche sich über Oberleutnant Fuchs ergoss. Allein er selbst war sich der Last auf seinen Schultern bewusst. Man hatte ihn beim Beförderungsappell auf infame Weise ignoriert. Liegen gelassen wie eine weggeworfene Kartentasche. Ihn, dem ein Diensthalbjahr lang die Götter hold waren, der bewiesen hatte, dass man Mot.-Schützen mit Kälte begegnen und dennoch Bester werden konnte. Ab heute sollten ihn alle Hauptmann nennen. Am liebsten wäre er vor die Tribünenrampe marschiert und hätte den Garnisonsvorsteher gefragt: „Und ich? Genosse Regimentskommandeur?“ Ähnlich erging es Fähnrich Hendrich Bauer, der innerlich gefühlt, zum Unterfähnrich degradiert wurde. Doch dieser Dienstgrad war noch gar nicht für ihn erfunden worden. Schlagartig wich aus seinem Gesicht die feurige Röte der Erwartung, nur das Zittern blieb. Kreidebleich schaute Bim den Dekorateuren auf ihre Münder. Die blieben geschlossen wie das Scherengitter vor der Waffenkammer. Vorbei. „Warum?“, klagte Bim lautlos die auf der Tribüne versammelte Riege an.

Schreiber Kallifei stockte der Atem, in eines der grauen Betonelemente hätte er versinken mögen. Er traute sich nicht, den beiden verprellten Wohltätern in die Sehschlitze zu schauen. Was war geschehen? Hatte das Orakel ihn genarrt? Fragen über Fragen ließen auch seine Schreiberbeinchen schlottern. Die Muckschen quittierten den nicht gewährten Hauptmann und dem imaginären Stabsbähnrich Hohn und Spott. Jeder jodelte innerlich „Hurra, Hurra, Hurra“. Den Soldaten war bewusst, dass die Nichtbeförderung der beiden einer Degradierung gleich kam. Kallifei, der wahre Held, wurde von allen hofiert. Nach dem Festakt auf dem Explatz füllten sich die Flure. Allein das verprellte Paar glänzte mit Abwesenheit. Soldatenhochzeit feierten heute andere. Wer Besuch angemeldet hatte, bekam die Möglichkeit, seine Gäste auf dem Kompaniebereich zu empfangen. Für Ludwig Sporn stand der heutige Ehrentag unter einem glückbringenden Hufeisen. Er hatte eigens dafür in der von ihm verwalteten BA-Kammer ein Liebesnest vorbereitet. Als er mit der lang entbehrten Carola um die Flurecke bog, lief alles wie abgesprochen. Pasch sorgte dafür, dass der beiden Techtelmechtel in der Entkleidungskammer niemand störte. Romantisch war es sicher nicht, zwischen Regalen voll Bettwäsche, Kombis, Ausrüstung, Thermophore und Putzzeug seine Freundin zu entblättern. In Sachen Liebe waren der Fantasie eben keine Grenzen gesetzt. Unglücklich sahen beide nach Verlassen des Etablissements jedenfalls nicht aus. Carolas Augen funkelten sogar wie Sterne am Tag der Beförderung.





Rüdiger Paul

Der Püppchenstein

Bild auf der Rückseite

Eberhard Nitt

"Die Hoppenhauptkirche in Beuna"

(Öl)





Der Beginn einer sagenhaften Geschichte zu Zeiten des siebenjährigen Krieges


Coverbild Ines Münch

"Der Püppchenstein" (Acryl)

Leseprobe



Vorbemerkung


Sagen verbergen Geschichten, in diesen wiederum hinterlässt die Geschichte ihre Spuren. Nach knapp zehnminütiger Gehzeit entdeckt man auf dem Weg von Geusa nach Beuna einen Felsbrocken. Genau genommen ist es der Ersatz für den sagenumwobenen „Püppchenstein“. Über hundert Jahre lag dort das Original, ein zwei Tonnen schwerer Braunkohlenquarzit aus den Tiefen des Geiseltals. Aus bislang ungeklärten Gründen verschwand der Stein im Jahr 2013 nach umfangreichen Straßenbauarbeiten auf nimmer Wiedersehen. Um die Sage an ihrem Ursprung zu verorten, nahm sich die „Geusaer Pfingstburschenschaft von 1873“ der Sache an und schaffte ein Double herbei. Zum Pfingstfest 2014 wurde, an angestammter Stelle ein ein neuer Stein gesetzt und direkt daneben Pflaumenbaum gepflanzt. Die Sage vom Geusaer „Püppchenstein“ lässt uns gleich fünf Fährten verfolgen: Die Urgeschichte beschreibt den „Totenstein“. Vor längst vergangenen Zeiten wurden in Geusa Verstorbene, auf dem Friedhof in Oberbeuna bestattet. Da der Felsbrocken auf etwa halbem Wege lag, setzten die Träger den Sarg auf dem Stein ab und legten eine Verschnaufpause ein. Laufen hingegen in einer Vollmondnacht Sonntagskinder am Stein vorüber, erscheinen ihnen tanzende Püppchen. Des Weiteren erzählt man sich, dass derjenige der zur mitternächtlichen Zeit den Stein passiert, aber kein Sonntagskind ist, ein hartes Schicksal widerfährt. Der Betroffene erstarrt auf der Stelle, bis zum nächsten Stundenschlag. Hartnäckige Zeitgenossen sollen gar in die Irre geführt worden sein und erst am folgenden Morgen den rechten Weg wiedergefunden haben. Über lange Jahre hinweg diente der Stein als Gemarkung. Die Burschen aus beiden Orten machten sich einen Wettbewerb daraus, den Grenzstein zu Gunsten der jeweiligen Gemeinde zu verschieben. In dem Zusammenhang wird wiederum erzählt, dass unter dem Stein ein französischer Leutnant, begraben sei. Auf welche Weise er zu Tode kam, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Jedenfalls war nach dessen Beisetzung der Steinbrocken nicht mehr zu bewegen. Den Umständen, die zum Tode führten, wollen wir uns einmal genauer widmen. Alle Beteiligten der Beschreibungen hatten weder Namen noch Adressen. Daher möchte ich versuchen, den Sagengestalten Leben einzuhauchen.


Maries Taufe

(29. 05. 1735) Pfingsten im Jahr 1735.


„Und so taufe ich Dich auf den Namen Marie.“ Sprach der Pfarrer, hielt die Kleine über das Taufbecken und benetzte das Köpfchen mit Weihwasser. Die Eltern und Taufpaten sahen sich glückselig an. „Nun steht unsere Tochter im Buch des Lebens“, sagte der Vater. Nach der Taufe trug die Mutter, ihre in Windeln gelegte Marie die Steintreppe am nördlichen Ausgang der Kirche hinunter. Mit Glockengeläut konnte der Pfarrer an dem frühlingshaften Pfingstsonntag nicht dienen, denn das Gotteshaus in Oberbeuna besaß keinen Glockenturm. Der bekannte Barockbaumeister Johann Michael Hoppenhaupt plante das Kirchengebäude. Im Jahre 1725 wurde es fertiggestellt und ohne Turm geweiht. Knappe zweihundert Schritte trennte die Taufgesellschaft von ihrem Heim. Die Familie wohnte in der vom Kirchhügel aus sichtbaren Mühle direkt zwischen dem Mühlgraben und der Geisel. Dort duckte sich der flache Bau, an dessen südlicher Seite sich mit bedächtiger Gleichförmigkeit ein Mühlrad drehte. Das Innere der Mühle war erfüllt von einer ihr eigenen Melodie. So tönte es schon seit über dreihundert Jahren, denn die Mühle wurde bereits im 13. Jahrhundert von Benediktinermönchen des Merseburger Petriklosters erbaut. Das Plätschern des Wassers hatte am heutigen Tag einen besonderen Klang. Die robuste Mechanik des Räderwerkes klang so, als wolle sie die fehlenden Kirchenglocken ersetzen. Gewichtig knarrten die hölzernen Wellen und Räder. Durch das aufeinander reiben und malmen der Mühlsteine entstand ein unterschwelliges Dröhnen. Ab dem heutigen Tag wird dieses Lied auch Marie begleiten. Sechs Monate nach der Taufe vernichteten wochenlang anhaltende Regenfälle, die Ernten auf den Feldern im gesamten Umland. Der Mühlbach und die Geisel traten über und die Mühle stand inmitten eines Sees.


An der Saar

 (1735 - Nicholas 4 Jahre alt)


Ein ähnliches Schicksal erfuhr Nicolas im fünfhundertfünfzig Kilometer von Beuna entfernten Hermelange, einer in Frankreich am Fuße der Vogesen gelegenen Gemeinde. Der Junge spürte an diesem sonnigen Pfingstsonntag etwas Besonderes. Er hörte schon vier Jahre die nicht wegzudenkenden Klänge der elterlichen Mühle. Unbewusst übernahm das Mühlwerk die Regie und waltete über den Rhythmus des Alltags. Die Wassermühle wurde unweit der Stelle erbaut, an der sich die „Rote Saar“ mit der „Weißen Saar“ vereinigt. Kaum dreißig Kilometer legt das Wasser von den Saarquellen bis zur Mühle zurück. Auf der Insel zwischen den beiden Bächen saß Nicholas unter einer Weide auf einem Findling. Das war sein Lieblingsplatz. Die Natur erwachte. Grün, gelb und blau prangten die Farben des Frühlings. Klar und quirlig umfloss das Wasser den Stein. Aus Stroh und Zweigen bastelte er mit dem vier Jahre älteren Bruder Louis Fantasiefiguren, Soldaten und Püppchen. Ihre Helden mussten im Fluss waghalsige Abenteuer bestehen. Beide Kinder waren im Spiel der Welt entrückt.


An der Geisel

(1740 - Marie 5 Jahre alt)


Gleich zu Beginn des Jahres zog über die Umgegend von Merseburg ein schweres Wintergewitter. In der Mühle drehte sich kein Rad mehr. Der Müller musste gemeinsam mit zwei Handwerkern aus dem Ort die Schäden des Unwetters beseitigen. In dieser Zeit wohnte Marie bei den Großeltern im Nachbardorf Geusa. Erst Anfang Mai, als in der Mühle alles rund lief, brachte der Großvater das Mädchen wieder nach Hause. An einem strahlend hellem Tag begab sich die Kleine mit ihrem älteren Bruder Ludwig entlang des Mühlgrabens auf Abenteuertour. Beide entdeckten die Stelle, an welcher der Graben von der Geisel abzweigte. Ihren Ursprung hat das Flüsschen im siebzehn Kilometer entfernten Ort St. Micheln. Dort quillt die Geiselquelle mit Macht aus einer Karstwand. Sie durchfließt das flache Tal, um sich unweit des Merseburger Petriklosters mit der Saale zu vereinen. Bruder und Schwester saßen am Ufer und hörten auf die Stimmen des Wassers. Wie es säuselte und verspielt vor sich hin plätscherte. Mit klarem Ton klirrte der Bach die Melodie des ewig Neuem. An der Gabelung zwischen der Geisel und dem Mühlbach hatte sich mit der Zeit ein Eiland gebildet. Über bemooste Trittsteine balancierend gelang es Marie, die Insel trockenen Fußes zu erreichen. Für die Geschwister boten die Flussläufe Platz für allerhand Phantasien. Aus den verwachsenen Stämmen hohler Weiden brachen sie weiches Holz und Rindenstücke. Daraus entstanden kleine Boote. Weit vor der Gabelung setzte der Bruder die Flotte in den Fluss. Mariechen stand auf der Insel, um zu schauen, wohin die Reise ging und welchen Lauf die Schiffe nahmen? Die Fahrt in Richtung Mühlbach brachte für die Besatzung unausweichlich den Tod durch die Gewalten des Mühlrades. Bewegte sich das Schiffchen weiterhin auf der Geisel, bedeutete das für die Schiffsmannschaft ein Leben in Freiheit.


Neugier

(1745 - Nicholas 14 Jahre)


In der Saarmühle - Hermelange war die Kinderzeit vorbei. Nicholas musste in der Mühle des Vaters ordentlich zupacken. Aus ihm war ein junger Mann geworden. Die Arbeit bereitete ihm Freude trotz, dass hin und wieder das Fernweh an seine Tür klopfte. Ein Besuch bei Onkel Serge hatte das Gefühl entfacht. Serge lebte in einem Waldhaus am Monte St. Michel. Der Oheim kannte sich in der Umgebung bestens aus. Er erzählte von den geheimnisumwitterten Orten hier im Lothringischen. Etwa vom nahe gelegenen und sagenumwobenen „Donon“. Dem Berg, in dessen Inneren die Saarquellen entspringen. Anschaulich erklärte Onkel Serge, wie die Römer auf dem Gipfel einen Tempel bauten, um dem Gott Merkur Opfer zu erbringen. Nicholas erfuhr, dass Vaters Wassermühle von Mönchen erbaut wurde, da deren Orden wirtschaftliche Unabhängigkeit anstrebte, war den Klöstern meist eine Mühle angegliedert. Oftmals zerstörten Unwetter die Anlage. Dank ihrer bevorzugten Position am Fluss wurde sie stets wieder aufgebaut und erweitert. Auch wenn die Mühle Nicholas Mittelpunkt war, erwuchs in ihm die Neugier, auf die Welt hinter den Bergen.


Pfingsten bei den Großeltern

 (1745 - Marie 10 Jahre alt)


Erstmalig läutete die Kirchenglocke das Pfingstfest in Oberbeuna ein, denn im Frühjahr hatten die Handwerker die Bauarbeiten am Kirchturm beendet. Wochenlang hatte Marie vom Fenster aus verfolgt wie beständig die „Zwiebel“ auf dem Turm Gestalt annahm. Pfingstsonntag, nach dem Gottesdienst, machte sich die Familie auf den Weg zu den Großeltern, in der Nachbargemeinde Geusa. Auf halber Strecke kletterte Marie auf einen großen Stein am Wegrand. Vater ergriff einen Zweig des dahinterstehenden Pflaumenbaumes und schaute sich die Blüten an. „Hoffentlich gibt es in diesem Jahr eine reichliche Ernte. Noch so ein Jahr wie das Vergangene werden wir nur schwerlich überstehen“, meinte er und ließ den Zweig los. Nach einer halben Stunde Weg war das Ziel erreicht. Der Familientradition gehorchend, trafen alle Familienmitglieder zum Pfingstfest auf dem Hofe der Großeltern ein. Man begrüßte sich herzlich. Wiedersehensfreude stand in den Gesichtern geschrieben. Vor dem Fest wurde geschlachtet, gebraut, gebacken und gekocht. Mit in Körben und Schüsseln verwahrten Köstlichkeiten trug jeder zum Gelingen des Festes bei. Marie und ihre Familie erlebten einen ausgefüllten Tag. Am Nachmittag sangen die Frauen. Die Männer tranken selbst gebrautes Bier, redeten über die Politik, das Wetter, die Ernte und lachten über gar manche Zote. Mit Einbruch der Dämmerung rüsteten sich Mutter, Vater, der Bruder und Marie für den Heimweg zur Mühle. Unvermittelt verlangsamten die vier ihren Schritt, blieben erneut am Stein stehen. Ludwig fragte die Schwester: „Na Marie, du weißt doch um die Bedeutung des Brockens?“ „Großvater hat mir die Geschichte vom Püppchenstein erzählt“, antwortet Marie. „Nein das ist der Totenstein“ raunte ihr Bruder und setzte dabei eine finstere Miene auf. Im schaurigen Tonfall begann er eine seiner selbst erdachten Gruselgeschichten zu erzählen. Vater gebot dem mit klarem Wort Einhalt. Er tröstete die Tochter mit der Aussage, dass die Totenträger auf dem Weg zum Beunaer Friedhof den Schrein an der Stelle absetzen. Und je nach Gewicht des Verstorbenen wechseln sich hier die Männer ab. Dabei sei doch nichts Abwegiges. Gestorben wurde immer. Allein der Gedanke verursachte in Marie ein mulmiges Gefühl. Um dem Stänker den Wind aus den Segeln zu nehmen fragte der Vater seinen Sohn, ob er die Abmaße des Steins benennen könne? „Vier Ellen lang, drei Ellen breit und zwei Ellen hoch ist er“, antwortete Ludwig prompt. „Woher weißt du das so genau?“ Fragte der Vater erstaunt, denn er hatte mit dieser schnellen Antwort nicht gerechnet. „Die Burschen im Dorf sprechen zurzeit von nichts anderem. Heute um Mitternacht ist es so weit. Wir haben vor, den Markstein heimlich in Richtung zu Geusa verschieben.“ Im Halbdunkel schaute der Vater Ludwig an, klopfte ihn auf die Schulter und sagte: „Du bist zum ersten Mal nachts am Stein. Genau erinnere ich mich an den Tag, an welchem ich mit deinem Großvater hier stand. Hab Mut und streng dich an mein Sohn. Leicht wird es nicht. Es ist eine Ehre für jeden aus unserem Ort, der dabei ist.“ Mutter ließ die „Männer“ vorangehen und nahm sich Marie zur Seite. „Hör zu, das ist und bleibt der Püppchenstein. Dir wird das Glück hold sein. Die Alten sagen, dass Sonntagskindern, welche bei Vollmond zu Mitternacht den Stein passieren, Wunder widerfahren. Bedenke, ich habe dich an ein Sonntag zur Welt gebracht.“ Die tröstenden Worte beruhigten die Tochter. Sie ergriff die Hand der Mutter und ließ sie, bis sie an der Mühle angekommen waren nicht mehr los. Zwischendurch drehte sie sich mehrmals um. Ihr misstrauischer Blick galt dem geheimnisvollen Sagenstein. Mit der Zeit vergaß sie den Spuk wieder. Marie ahnte nicht, dass sie sich selbst einmal in eine Sagengestalt verwandeln würde.


In der Mühle

(Okt./ Nov. 1757- Marie 22 Jahre alt)


Der Postkutscher brachte die Kunde, dass die Saalebrücke am Neumarkt brennt und die Franzosen sich in Richtung Mücheln zurückziehen. Die Preußen rückten derweil auf Merseburg zu. „Hat jemand Nachricht von unserem Ludwig?“ Fragte die Mutter aufgeregt. Es gab kaum Meldungen über die Kämpfe um Torgau. Ein Späher berichtete, dass Feldmarschall Keith seine Armee im Eilmarsch auf Halle marschierte, um an der Saale die Franzosen aufzuhalten. „Unser Sohn wird es packen, ihm wird nichts geschehen. Gott stehe ihm bei“ beschwichtigte der Vater die Müllerin im beruhigenden Ton. Er forderte die Mutter und Marie auf, die Vorräte aus der Mühle zu schaffen, um sie vor Plünderungen zu retten. „Sollen die Franzmänner sich mit Mehl begnügen, davon besitzen wir, Gott sei Dank, genug.“ Er trug immer mehr Essbares vom Mühlenkeller in den Hof. Die beiden Frauen verbrachten den Vormittag damit, das Fuhrwerk zu beladen. Der Plan war, Schinken, Würste, Pökelfleisch, Branntwein und Tontöpfe mit Eingemachtem nach Geusa in Sicherheit bringen. Abgelegen vom Gehöft hatte Großvater in einem bewachsenen Erdhügel einen Vorratskeller angelegt. In vergangenen Kriegszeiten hatte das Versteck nie jemand entdeckt. Auf dem Rückweg sagte Marie in Höhe des Püppchensteins zu ihren Eltern: „Bald ist Vollmond. Am Stein passiert derzeit gewiss kein Wunder.“ „Deine Püppchen tanzen schon heute Abend in Uniform, direkt an unserer Mühle vorbei.“ Antwortete der Vater und zeigte in Richtung Merseburg. In der Ferne waren die Türme des Schlosses zu erkennen. Von Osten her sahen sie französische Truppen auf ihr Dorf zu marschieren. „Marie, bei den Großeltern in Geusa wärest du in den folgenden Tagen besser aufgehoben. Dort bist du sicher.“ Sagte die Mutter besorgt, als sie den nicht enden wollenden Tross nahen sah. „So lange unser Ludwig nicht in der Mühle ist, bleib ich bei euch. Was soll uns geschehen, wenn wir uns wie Menschen benehmen?“ Gab Marie zur Antwort. Kaum waren die drei an der Mühle angelangt, stürmte der Dorfschulze in den Hof. Er erklärte dem Vater, dass die preußische Armee um Roßbach Quartier bezogen hatte.  König Friedrich wurde im dortigen Herrenhaus untergebracht. Gemeinsam mit anderen Bauern des Dorfes sollte der Müller im Schutz der Dunkelheit einen Track organisieren. Soweit es die Lage zuließ, hatte das Kommando die Aufgabe, Verpflegung zu den Soldatenlagern der Preußen zu schaffen. Mutter hingegen wurde in der Kirche gebraucht. Hier Versorgte man verwundete Franzosen. Dadurch war Marie mutterseelenallein in der Mühle. Mit zunehmender Dämmerung beschlich die junge Frau ein ungutes Gefühl. Auf dem Speicherboden setzte sie sich hinter ein staubiges Fenster. Von hier aus hatte sie freie Sicht auf die Heerstraße. Die Völkerwanderung nahm kein Ende. Planenwagen, Marketender, Fuhrwerke mit Kanonen im Schlepp. Kavallerieeinheiten sowie Tausende Infanteristen zogen vorbei. Ihr Vater hatte recht behalten. Heute tanzten hier Soldaten. Und was wird morgen sein? Kurze, fremd klingende Kommandos, bewegten verschiedene Einheiten auf dem längst abgeernteten Feld Stellung zu beziehen. Ringsum nahmen Offiziere Quartier. Marie sah vom Fenster aus, dass einer von denen sich der Mühle näherte. Erschrocken, dass er sie von außen entdecken würde, stellte sie die Petroleumleuchte auf den Boden. Den Docht der Lampe drehte sie so weit nach unten, dass hinter dem Glaszylinder nur noch ein spärliches Licht brannte. Die Turmuhr schlug acht. Am Eingang klopfte es. „Vater ist es nicht, der pocht nicht“, überlegte Marie. „es ist gewiss der Offizier, der vorhin die Furt durchschritt.“ Sie näherte sich auf leisen Sohlen dem Mahlgang und schaute hinunter. In dem Moment zog der Unbekannte die Tür hinter sich zu. Kurze Zeit darauf öffnete sich vorsichtig die Tür neben dem Mühlrad und jemand betrat den Mahlboden. Der Eindringling setzte sich auf die hölzerne Stiege zum Getreideboden. In sich versunken atmet er hörbar tief durch. Stille.

Rüdiger Paul

Nebel


Nebel

 


Elfenbein


tritt ins Auegras


leicht und weich


es schwebt


Nebel weht


 


Seidenschleier


umhüllt sanft


ein Geheimnis


lässt werden


Nebel steht


 

Zeitstrom


nimmt mit


das Leichte


macht es fest


Nebel geht


 


Seelenwein


tränt ins Glas


rot und schwer


und tröstet


Nebel verweht


 

Bodenkrume


klebt


erden und zäh


am Fuß


Leben vergeht







Rüdiger Paul

Uber die Anwendung barocker Zaubersprüche

Leseprobe


Gleichsam einem alten Gemälde entsprungen duckt sich der klägliche Rest des Merseburger Sixtiviertels im Schatten des Wasserturmes. Der Turm ragt stolz in den Himmel, ist aus der Silhouette Merseburgs nicht mehr wegzudenken. Bei genauerem Hinsehen wirkt er aber ebenso müde und abgezehrt wie sein mit Gitterzäunen versperrtes Umfeld. Rings um diesen Hügel liegt ein Stück Merseburger Geschichte begraben.

In sternenlosen Neumondnächten, wenn der Turm keinen Schatten mehr wirft, treffen wir uns hier oben am Rande des Wasserbassins. Wir, das sind die Spukgestalten alter Merseburger und die Geister der neu dazu Gestorbenen. Eben all jene, die Merseburger Geschichte geschrieben haben: Schuster, Hebammen, Kesselflicker, Lehrer, Bauherren, Bäcker, Pferdeburschen, Adelige, Musiker, Stellmacher, Bauern, Schreiberlinge, Tagelöhner, Fotografen, Sänger, Friedhofsgärtner, Brauherren, Soldaten, Kirchendiener und Kohlehändler. Alte und junge, Arme und Reiche, sowie die Bösen und Sanftmütigen der Stadt unter einem Dach – wo hat man derartiges in Merseburg schon gesehen?

Meist ist der Turm knackevoll. Froh ist, wer einen Platz am Rande des Beckens gefunden hat. Der Rest steht oder schwebt. Wassergeister schwimmen natürlich. Ohne uns gäbe es gar keine Geschichten. Weder gute noch schlechte, diese nicht und keine anderen. In unseren Geschichten verschwimmt die Wirklichkeit, vermischt sich mit Erlebtem und lässt der Phantasie freien Lauf. Null Uhr schlägt die Turmuhr der Neumarktkirche. Nun bildet sich auf der Wasseroberfläche ein dünner Nebel. Das Wasser bekommt eine leuchtend blaue Färbung. In der Kuppel des Turmes mischen sich gelbe, grüne und blaue Luftschleier. Heute ist es an mir, eine Geschichte zu erzählen. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Hoppenhaupt. Johann Michael Hoppenhaupt. Merseburg lag mir zu meiner Zeit auf Erden sehr am Herzen. Deshalb entwarf ich für Merseburg barocke Bauwerke. So zum Beispiel den Schlossgartensalon, die Kirche in Oberbeuna, den Herzogspavillon in Bad Lauchstädt, eine Mühle in Holleben. Prunksärge in der Merseburger Fürstengruft tragen meine Handschrift. Die Kraft meiner Phantasie hat Geheimnisse in vielen meiner Kunstwerke verewigt. Besonders am Herzen lag mir die Obere Wasserkunst. Herzog Heinrich von Sachsen-Merseburg übertrug mir die Aufgabe, die maroden Gebäude der Oberen- und Unteren Wasserkunst in Stein zu errichten.

Ein neu erschaffenes Pumpwerk und bleierne Röhren sollten die Obere Altenburg, das Schloss sowie die Domfreiheit mit Saalewasser versorgen. Wer zählt schon die Skizzen? Die Versuche, mich dem Ziel zu nähern. Im Schein einer rußenden Petroleumlampe mühte sich mein Geist oftmals, bis mir die Augen zufielen. Als endlich 1738 im Beisein des Herzogs Saalewasser durch die Röhren strömte und sich die Tröge auf dem Schlossberg mit klarem Wasser füllten, war das Werk vollendet. Von diesem Tag an beflügelte das Plätschern des einströmenden Wassers meinen Geist. Mit diesem über dem Portal der Wasserkunst in Stein gehauenen Spruch sollte dem Baumeister gehuldigt werden: „So faß die Kunst in Bley und Röhren Deß Wassers eingeschränkte Fluth. Ein Druckwerk muß das Steigen mehren Das doppelt treibt und niemals ruht. Diß Theurer Heinrich ist Dein eigen Du baust es neu und nutzbar auf. Gott lasse Deiner Jahre Lauff Wie diese Kunst beständig steigen." (Anno 1738)

Unweit der Wasserkunst fand ich auf dem Altenburger Friedhof meine letzte Ruhestätte. Aber man stirbt nicht so einfach, ist nicht so plötzlich weg, wie es den Lebenden erscheint. Quirliges Plätschern ließ im Jahre 1889 meinen Geist erwachen. Erstmals verließ ich den Platz, der seit einhundertachtundvierzig Jahren als meine letzte Ruhestätte galt.

Dem vertrauten Lied des Wassers entgegen strömte ich mehr, als dass ich lief. Die Dinge, welche mir als Mensch im Wege standen, konnte ich nun durchdringen. Was war geschehen? Hatte sich mein Geist tatsächlich von den Überresten meines Körpers entfernt? Mit einem Mal hatte ich es eilig, an die Quelle des Ereignisses zu gelangen. Rund um die Kirchenruine der St. Sixti wurde ich einer Baustelle gewahr. Ein Ingenieur namens Pfeffer war beauftragt, ein Wasserwerk zu erschaffen, welches die Häuser der Stadt Merseburg mit Wasser versorgen sollte. Oben in der neu errichteten Turmkuppel wurde ein Speicherbehälter aus Stahl eingebaut. Er maß in seinem Durchmesser zwölf Meter und fasste ganze 770 Kubikmeter Trinkwasser. Auf der Baustelle wurde bis zur letzten Minute gesägt, gebohrt, gerüstet, gehievt, genietet, gefeilt und geschliffen.

Gerade am heutigen Tag sollte der Turm seiner Bestimmung übergeben werden. Bürger der Stadt, Handwerker und viele Bewohner des Sixtiviertels folgten der feierlichen Einweihung. Es war eine Freude für mich, unbeschwert dem Tun zu folgen. Als ich erfasste, mit welchem Geist dieser Bauherr ans Werk ging, fiel mir mein Sinnspruch wieder ein: „Du baust es neu und nutzbar auf. Gott lasse Deiner Jahre Lauff. Wie diese Kunst beständig steigen.“ In der Kuppel traf mich ein vom klaren Wasser reflektierter Sonnenstrahl, ließ mich über die Geschichte der Wassers in dieser Stadt sinnieren. Dabei musste ich wohl eingenickt sein. Jahre vergingen und viel Wasser floss die Saale hinunter. Jäh wurde ich fast einhundert Jahre später, also im Jahre 1985, von einem gurgelnden Geräusch aufgeschreckt. Als ob das Wasser selber um Hilfe riefe. Der Hilfeschrei ertönte eindeutig aus der Wasserkuppel der St. Sixti-Ruine. Eile schien geboten. Kaum zu glauben, was sich im Turm vor meinen Augen abspielte. Der harte Kern der Merseburger Geisterwelt spukte aufgebracht rings um das Wasserbecken, in welchem mit höllischer Kraft ein Wasserstrudel tobte. Es war, als hätte jemand den Stöpsel herausgezogen. Wassergeister und Nixen retteten sich gerade noch an den stählernen Rand des Bassins. Immer weiter sank das Auge des Strudels in die dunkle Tiefe, bis der letzte Schwall mit einem herzzerreißenden Hilferuf hallend im Steigrohr nach unten preschte. Totenstille hier oben. Nur der Wind strich um die Ecken des Turmes, ein paar Tauben gurrten. Alle Anwesenden schauten sich doppelt entgeistert an. Was war geschehen?

Nahe dem Gut Werder, am Rande der Stadt, war in den vergangenen Jahren ein Wasserwerk gebaut worden. Schlicht in der Ansicht, zweckmäßig, architektonisch nichts Besonderes. Mit Wasserkunst hatte diese graue Maus wenig zu tun. Man verbaute, wie es hieß, modernste Technik, aus dem Lande Lenins. Zwei riesengroße Pumpen sollten von nun an den Dienst des Wasserturmes übernehmen. Eine Pumpe für die Versorgung, die zweite stand ausschließlich für den Reservefall bereit.

Aufgeregt drängelten sich die Geister in der Turmkuppel, keiner konnte begreifen, was hier geschah. „Erst hat man uns die Häuser des Sixtiviertels genommen. Nun, da wir in diesem Turm ein neues Zuhause gefunden haben, wird uns das Wasser verwehrt!“, rief der Geist des einstigen Baumeisters Pfeffer.

Indes hatten sich die Mitarbeiter in der Maschinenhalle des Wasserwerkes zur Pumpenweihe eingefunden. Alle Schlosser trugen frisch gewaschene Arbeitsanzüge, das Anlagenpersonal gefiel in bunten Dederon-Schürzen. An der Wand klingelte das schwarze Telefon. Der Meister nahm den schweren Hörer von der Gabel und meldete sich. Vom anderen Ende der Leitung bekam er die Mitteilung, dass der St. Sixti-Wasserturm endgültig außer Betrieb genommen wurde. Freudig erregt legte er den unförmigen Hörer auf die Gabel zurück. Er durchmaß mit stolzem Schritt die Maschinenhalle und nestelte dabei aufgeregt an seiner schwarzen Ledermütze. Am großen Schaltschrank direkt neben den Pumpen hatten sich die Kollegen aufgestellt. Der Meister betätigte den Hauptschalter. Unter gewaltigem Dröhnen fuhr die Druckpumpe an und förderte von Stund an Trinkwasser in das Rohrnetz der Stadt. Seliger Glanz stieg vorübergehend in des Meisters Augen.

 „Wie kann man dieser Willkür Einhalt gebieten?“, fragte ich mich. Oft genug gingen mir Gedanken über die zerstörerische Kraft des Wassers durch den Kopf. Mit diesem Wissen fasste ich einen einsamen Plan. Mitten in der Stadt, an der Kreuzung Magistrale/Gotthardstraße, stand sich selbst überlassen ein Schlosser. Er hatte die Aufgabe, das Entlüftungsventil zu öffnen, damit die Luft aus dem Rohrsystem entweichen konnte. Lenin stand auf seinem Denkmalsockel und schien gelassen dem emsigen Alltagstreiben im Stadtzentrum zu folgen. Er ahnte nicht, was sich in der Erde direkt unter ihm zusammenbraute. „Warte nur mit deiner Technik! Von wegen unseren Wasserturm trockenlegen!“, grummelte ich etwas verstimmt. Meine übersinnlichen Kräfte reichten aus, den Schlosser zu beeinflussen. Verträumt stand der neben dem Schieber und verfolgte die Kondensstreifen eines Flugzeuges. Darüber vergaß er seine Aufgabe. Der Schlosser setzte sich auf den Bordstein und blickte ins Leere. Nun nahm das Schicksal seinen Lauf. Die neue Pumpe drückte mit enormer Kraft Wassermassen in die Hauptleitung. Das zum Stadtzentrum hinströmende Wasser schob eine Luftblase vor sich her, welche sich mehr und mehr verdichtete. So entfalteten sich in dem Rohr ungeahnte Kräfte und es kam, was kommen musste. Der aufgebaute Druck war so hoch, dass er sich mit einem zerstörerischen Knall den Weg ins Freie bahnte. Erschrocken zuckte der Schlosser zusammen. Er sah nur noch, wie der blaue Entlüftungsschieber hoch über ihm seine Bahn zog. Im Wasserwerk bemerkte man den plötzlichen Druckabfall, meinte aber, das hinge mit der Inbetriebnahme der Pumpen zusammen. Also lief der Meister zum großen Schaltschrank. Rückte erneut den abgewetzten Schirm seiner schwarzen Ledermütze zurecht und tat etwas sehr Verhängnisvolles. Er schaltete per Knopfdruck die Reservepumpe zu. Dadurch verdoppelte sich der im Rohr anstehende Druck. War mein alter Sinnspruch etwa doch eine Zauberformel? „So faß die Kunst in Bley und Röhren Deß Wassers eingeschränkte Fluth. Ein Druckwerk muß das Steigen mehren Das doppelt treibt und niemals ruht.“ Genau das geschah! Zu Lenins Füßen schoss eine meterhohe Fontäne in den Merseburger Abendhimmel. Die Asphaltdecke riss auf, darunterliegende Pflastersteine wurden ausgespült. Wie ein Vulkan spie das tobende Wasser Sand, Steine, Schotter in die Höhe. Schnellen Schrittes, geduckt und mit eingezogenen Köpfen, versuchten Passanten sich dem herabregnenden Trinkwassermassen zu entziehen. Vor dem Denkmal entstand ein riesiger wassergefüllter Krater. Die Straßenbahngleise sackten ab. Auch das Fundament des Lenindenkmals wurde vom ständig nachdrückenden Wasserstrom unterspült. Dadurch neigte sich die riesige Bronzeskulptur allmählich nach Osten. Polizei, Feuerwehr und natürlich Schaulustige bildeten die Kulisse für dieses Drama der Wasserkunst. Der eilig herbeigerufene Bereitschaftsdienst stand Kopf. Ein Herr im braunen Anzug, dem ich bei der Einweihung der neuen Pumpen begegnet war, sprang aus dem Auto und schrie völlig entgeistert: „Alles, nur nicht Lenin!“ Das auf ihn herabprasselnde Wasser erstickte seinen einsamen Schrei. Vorhin in der Maschinenhalle sprach er noch von einer neuen Ära und der modernen Technik aus dem Lande Lenins und von Planerfüllung. Nun schien alle Zuversicht aus ihm gewichen. Vollkommen durchnässt, mit hängenden Armen und gesenktem Kopf, schaukelte er mehr, als dass er ging, seiner bangen Zukunft entgegen. Aus seiner Perspektive erschienen ihm die Oberleitungen der Straßenbahn wie Fallstricke. Im Scheine der untergehenden Sonne drohte Lenin direkt in dieses Geflecht aus Stahlseilen zu kippen.

Nun war es an mir. Es bedurfte einiger telepathischer Kunstgriffe, um den Meister im Wasserwerk zu bewegen, endlich die gewaltigen Pumpen abzustellen. Aus der ungebändigt austretenden Fontäne wurde allmählich ein Springbrunnen. Nach kurzer Zeit blieb davon nur noch ein weicher Wasserstrahl übrig, welcher mit letzter Kraft versuchte, einen Bogen zu erzeugen. Aus! Schlagartig war es still. Totenstill! Im Rinnstein plätscherten noch vereinzelte Rinnsale in Richtung Kanalisation. Um das Sixtiviertel wieder mit Trinkwasser zu versorgen, aktivierte man eilig den gerade erst außer Betrieb genommenen Wasserturm. Frischer klarer Quell sprudelte noch am späten Abend in das Speicherbassin. Ein Wassermann rutschte vom Rand in die Fluten. Bald darauf stiegen vorsichtig zwei Nixen in das klare Nass. Der Bademeister vom alten Saalebad nahm Anlauf und versuchte es wie in seinen besten Zeiten mit einer Arschkrampe. Sah gut aus, spritzte aber nicht. Geist halt! Ganz unvermittelt tauchte eine Glatze aus dem Wasser auf. Das war der Saalealf. Er hob seinen Kopf aus dem Wasser und nuschelte wässrig: „Leude, esch ischt gleisch Einsch!“ Der erste Stundenschlag tönt von der Neumarktkirche her. Das blaugrün schimmernde Licht hinter den Fensterscheiben des Turmes der St. Sixti erlischt. Die illustere Gesellschaft löst sich in nichts auf und der Spuk findet für eine weitere Geisterstunde sein gutes Ende.

Rüdiger Paul

Die Willi

Leseprobe


Man muss eine Straße lieben, wenn man über sie eine Geschichte schreiben möchte. Unendlich lang fühlen sich die Tage der Kinderzeit in der Merseburger Wilhelm- Liebknecht- Straße an. Die von alten Linden gesäumte „WILLI“ ist Anfang Mai am schönsten, dann, wenn frisches Laub sattgrüne Wolken über der Straße bildet.

In den Häusern wird gewohnt. In den Höfen gefeiert. In den Gärten wird gesät, gepflanzt und geerntet. In den Geschäften gehandelt. In Werkstätten wird gewerkelt. In den Firmen gearbeitet. In die Schule wird gegangen. In Kneipen Bier getrunken. Im Sommer werden Lindenblüten gepflückt. Im Herbst stehen die Leitern in den Birnenbäumen und die Kartoffeln werden eingekellert. Vor dem Winter Kohlen geschippt. Wöchentlich graue Aschetonnen gerollt. Die Läden heißen Bäckerei, Lebensmittelgeschäft und Fleischerei.

Unsere „Easy Street“ beginnt in westlicher Richtung am Rande des Ottolochs. In Verlängerung der „WILLI“ führt ein Weg zur noch im Bau befindlichen F91. An ihrem östlichen Ende wird die Wilhelm-Liebknecht-Straße von einer Ziegelmauer begrenzt. Die „Sonnenallee“ lässt grüßen. Hinter der Mauer verlaufen Gleise der Bahnstrecke Halle-Erfurt. Ein Fußgängertunnel am Ende dient als Verbindung zur Stadt.

Auf der anderen Seite erhebt sich neben den Schienen ein Wasserturm. Wer aus der „WILLI“ kommend auf den Turm zugeht, sieht auf dem Geländer der Kuppel eine Taube. Beim genaueren Hinsehen ist zu erkennen, dass der vermeintliche Vogel nur der Umriss einer rostigen Seilwinde ist.

Unsere Geschichte beginnt an einem Maimorgen im Jahr 1968. Ein Ferientag. Gegen neun Uhr schälen die Kumpels sich allmählich aus den Haustüren. Zu allem bereit, was ein Tag bietet. Wir, das sind: Blechi, Maahties, Möbelscholz, Fetscho, Posti, Fischi und Lucke. Einer fehlt noch. Etwas verschlafen verlässt Motor das Haus. Seinen Lederball trägt er sportlich in der Armbeuge. Heute möchten wir die Straße vermessen. Nicht etwa mit dem Zollstock. Nein, wir spielen Treibeball. Das heißt, der Ball wird abgestoßen, derjenige der ihn zuerst berührt, darf den nächsten Schuss ausführen. Es wird festgelegt, dass wir vor dem Tor der Haeckel-Schule beginnen und in östliche Richtung stürmen. Das Spiel endet, wenn der Ball vor die Mauer an der Eisenbahnstraße prallt.

Auf der Mitte der Straße legt Motor filmreif den Ball zurecht. Er trägt als einziger Lederturnschuhe an den Füßen. In unseren Augen ist er ein Profi, denn er trainiert in der Schülermannschaft von Motor Merseburg. Straff zieht die Flanke über die Köpfe hinweg, ein Meisterschuss. Motor erweist seinem Namen alle Ehre. Der Zufall will es, dass Fetscho den Kopf direkt in der Flugbahn hält. Hart trifft der Ball den Hinterkopf, wird abgefälscht, neben der Einfahrt zur Malerfirma „PGH Raum und Farbe“ erreicht Fetscho den Ball. Noch etwas benommen nimmt er Anlauf und schießt. In dem Moment kommt ein mit Leitern- und Farbkübeln beladener Barkas aus der Einfahrt. Bremst vor dem Fußweg. Fahrer und Beifahrer gestikulieren hinter der Frontscheibe, denn der Ball pfeift knapp an den Vorderrädern des Fahrzeugs vorbei. Knatternd rollt das Gefährt über die Kreuzung in die Albrecht-Dürer-Straße. Möbelscholz sprintet dem Ball hinterher, stoppt ihn mitten auf der Straße. Er kommt aus dem Tritt, verzieht den Schuss. Der Ball rollt über den Fußweg, schlingert an der Hauswand entlang. Noch bevor der Ball in einem fensterlosen Kellerloch verschwindet, stoppt Lucke die Kugel. Da er direkt abzieht, fliegt sie am brummenden Trafohäuschen vorbei. Sie landet unweit der Einfahrt zur Tischlerei. Gebeugt läuft Frau Büttner direkt ins Spielfeld. Da sie schwer hört, bekommt sie von unserem Lärm nicht viel mit. Über die Straße hinweg grüßt sie mit dem Gehstock den dicken Herrn Schmidt. Der steht vor seinem Haus, im Schatten einer alten Linde, und schaut unserem munteren Treiben zu. Unser Ball verfehlt knapp Frau Büttners Fersen. Sie geht die Einfahrt entlang zu dem kleinen Haus neben der Tischlerhalle und gibt unbewusst den Ball frei.

Mit Feuerwerk treibt Fischi ihn über die Rektor-Block-Straße hinweg. Plötzlich droht Gefahr. Aus der gegenüberliegenden Friesenstraße kommen Bobby und Mike. Die zwei zählen in der Albrecht-Dürer-Schule zu den Gammlern. Unsere Lehrer sagen: „Lange Haare, Schlaghosen und ein Kofferradio sind dafür unverkennbare Erkennungszeichen.“ Albrecht Dürer hatte zwar kein tragbares Radio, trug dafür aber die Haare länger als Mike. Im Kurzwellenrauschen des „Stern Party“ können unsere Ohren einen Stones-Song erahnen. Das Spiel wirkt statisch, da keiner den Ball vor Bobbys Füße ballern möchte. Jedoch scheinen die beiden andere Sorgen zu haben, als uns den Ball abspenstig machen zu wollen. Sie schauen nicht einmal in unsere Richtung. Posti nimmt den Ball in die Hand, schießt ihn steil in den Morgenhimmel. Das war nichts, denn er strandet bei Meusens im Goldfischteich. Zum Glück ist die kleine Holztür zum Vorgarten offen. Blechi angelt den Ball fix heraus und bringt ihn unversehrt ins Spiel zurück. Sein Pass überquert die Straße, prallt mit Wucht an den Pfosten der breiten Einfahrt zur Meisterbräu- Abfüllerei. Dort wird er abgefälscht und zieht nach oben. Letztendlich landet er im Beiwagen der Sport- AWO vom ABV. Der Dicke holt den Ball aus der Kiepe, er besitzt Heimvorteil. Das Motorrad gehört seinem Vater. Der sitzt gerade uniformiert im ABV-Büro, bekommt von alldem nichts mit. Im Haus mit der Nummer 21 sind die Fensterflügel des Wohnzimmers weit geöffnet, jemand übt Klavier. Fetscho legt den Ball vor die AWO und schiebt ihn über das Kopfsteinpflaster bis zu Hennigs Kolonialwarenladen. Durch die Schaufensterscheibe sieht man Herrn und Frau Hennig, weiß bekittelt, hinter dem gläsernen Tresen hantieren. Frau Hennig steht neben einem der Bonbongläser mit dem süßen Inhalt. Vor der großen Fensterscheibe steht der lange Maahties bereit, als scheint er auf den Ball zu warten. Geschickt nimmt er den Ball an und bolzt ihn rüber, vor die Tür der 26. Er setzt dem Ball hinterher, nimmt ihn unter den Arm, zückt einen Haustürschlüssel und verschwindet zur Pinkelpause. Nebenan steht das grüne Tor der Klempnerwerkstatt offen. Der Meister Henneberg packt die lederne Klempnertasche in den Lastengepäckträger seines schweren Fahrrades. Er schiebt das Rad auf den Fußweg, zieht die Tür ins Schloss, steigt auf, mit einem nasalen „Na Jungs“ fährt der alte Herr behäbig davon. Maahties ist wieder da, weiter geht’s. Posti hat sich positioniert, flankt. Sein Ball prallt vor den Stamm einer Linde und knallt gegen das Haustor vom Architekten Schleie. Der Aufprall ruft Frau Winter auf den Plan. Sie hat Bange um ihre frisch geputzten Fensterscheiben. Bevor sie etwas sagen kann, bekommt Blechi den Ball, nimmt kurz Anlauf, schießt. Das Leder fliegt knapp an Motors Kopf vorbei, prallt an den Reifen vom abgestellten Jaucheauto. Der LKW gehört Herrn Pfuhl, der am Ende der Straße bei der Stadtwirtschaft arbeitet. „Paßt ein bißchen auf Jungs“, ruft der Beifahrer. Beim Sprechen bläst er Zigarettenqualm aus.

Motor erreicht den Ball noch vor der Kreuzung. Er legt nach. Am Bordstein vor der Poststelle prallt das Rund ab, fliegt in Richtung Gaststätte „Lindeneck“. Ein dunkelgrüner Brauereilaster steht mit laufendem Motor in der Erzbergerstraße, direkt neben der geöffneten Kellerluke. Lautstark redend rollt ein kräftiger Mann ein Bierfass an den Rand der Bordwand. Er lässt es auf ein festes Polster aus Kokosfasern fallen. Auf dem Gehweg steht ein Kollege, der das Fass hält. Dann dreht er es und wüchselt es geschickt auf eine Bohle. In kurzer Zeit gelangen drei Fässer, dumpf kollernd, in den Bierkeller. Einem zum Lüften angekippten Kneipenfenster entströmt ein Duftgebräu aus kaltem Zigarettenrauch, abgestandenem Bier und Bockwurst. Jetzt kommt Fischi an die Reihe. Den offenen Sandalen geschuldet trifft auch er den Ball nicht genau. Der kullert mehr, als dass er fliegt, und bleibt vor dem Tor zur Blumenbinderei liegen. Eine schwarz gekleidete Frau verlässt in dem Moment mit einem Trauerkranz die Durchfahrt. Auf der anderen Straßenseite steht die Ladentür der „Bäckerei Lenz“ offen. Duft von frischem Brot strömt aus der Tür. Dem hinterherriechend, kommt Blechi in Ballbesitz. Er bringt das Geschoß quer über die Straße, direkt an die Hauswand des kleinen Schreibwarenladens. Hier erwischt Lucke die Pille und trifft direkt vor Frau Andersons Lebensmittelladen eine Holzstiege mit welken Kohlköpfen.

Drinnen wird lauthals getratscht, also besteht keine Gefahr. Ohne Absprache kramt plötzlich jeder von uns in den Hosentaschen herum. Wortlos legen wir Groschen und Pfennige zusammen. Am Ende reicht das Geld für drei Flaschen Brause. Flaschenpfand brauchen wir nicht zu zahlen, denn Frau Anderson kennt ihre Pappenheimer. Um acht durstige Kehlen zu löschen, gehen die Limoflaschen reihum. Ein paar Minuten sitzen wir auf dem niedrigen Sims des Schaufensters. Auf der anderen Straßenseite fährt ein S 4000 vor und kippt wenig später dampfende Briketts mitten auf den Fußweg. Eine schwarze Staubwolke vertreibt uns aus dem Paradies.

Möbelscholz tritt aus der schwarzen Wolke hervor und legt vor der Fernsehwerkstatt „Ziegenhagen“ den Ball zurecht. Mit Effet dreht der Ball sich um die eigene Achse und kommt schlingernd bis vor das Fleischereigeschäft. Genau an der Ladentür lauert Fischi und setzt zur Flanke an. Der Ball wird an der Feilenhauerei vorbei bis auf die Kreuzung Steinstraße befördert. Er verfehlt knapp das an die Hauswand gelehnte, rußverschmierte Fahrrad des Schornsteinfegers. Nun kommt Bewegung ins Spiel. Der blonde Posti startet, erwischt den Ball und knallt ihn an die Tanksäule vor der Großgarage. Das gefällt dem Garagenwart überhaupt nicht.

Noch bevor der beleibte Mann aus der Pförtnerloge kommt, ist die gesamte Mannschaft bereits zwei Häuser weiter. Das Spiel strebt dem Endpunkt zu. Schlaksig, aber mit Wucht tritt Blechi an. Er bombt den Ball an ein Gitter der gegenüberliegenden Werkstattfenster. Oh Schreck! Der lang gezogene rote Klinkerbau gehört zur Stadtwirtschaft. Hinter einem dieser Fenster arbeitet sein Vater. Motor nimmt Anlauf und presst den Ball an einer Linde vorbei. Der Ball rollt direkt auf das Betriebsgelände der „PGH Aufbau“. Vier Männer sind damit beschäftigt, schwere Rüstleitern und Holzbohlen aufzuladen. Die nehmen keine Notiz von uns. Lucke dribbelt ein paar Meter, lupft den Ball an und flankt ihn seitlich zu Maahties. Der knallt das Leder aus der Drehung mit einem Volleyschuss über die Eisenbahnstraße hinweg, direkt an die Ziegelsteinmauer. Anschlag. Der Ball prallt ab, quert die Straße, um dann müde kullernd auf den Fußweg vor dem Hotel „Drei Schwäne“ zur Ruhe zu kommen. Die acht Freunde reißen die Arme hoch. Geschafft. Vom Spiel erschöpft setzen sich die glorreichen acht auf die Sandsteinstufen der „Schwäne“ und verfolgen, was sich hinter der Mauer tut.

Schnaufend verlässt ein schwarzes Dampfross den Merseburger Bahnhof. Weißgraue Wolken verhüllen die Lok und geben ihr weiche Formen. Auch der Wasserturm wird eingenebelt, bis nur noch die Kuppel sichtbar ist. Das Getöse der Lok, verbunden mit dem Zischen der Ventile gleicht einem Raketenstart. Brechen an der Mauer „Moderne Zeiten“ an? Die Dampfschwaden der Geschichte sind verzogen. Wir schreiben das Jahr 2015. Vieles wurde verändert. Im Jahr 1968 haben – allein in dieser Straße – etwa sechzig Menschen gearbeitet, gehandelt, täglich ihr Geld verdient.

Jetzt wohnt man nur noch. Einzig die Malerfirma „Raum und Farbe“ hat überlebt. Ansonsten wird den meisten Gärten Rasen gemäht und Wurst gegrillt. Blaue, gelbe, braune und schwarze Plastetonnen bringen Farbe in die Höfe. Vor den Häusern reihen sich bunte Autos aneinander. Lindenblüten werden von Reinigungsfirmen weggeblasen. Wer Kohlen benötigt, kauft sie, handlich verpackt, im Baumarkt. Geschäfte gibt es in der „WILLI“ keine mehr. Die Menschen handeln anderswo. Ihre Geschäfte befinden sich in Einkaufsparks und nennen sich Mc Paper, Nail-Studio, Backshop oder Mini Zoo. Der Fleischer heißt Post. Aus dem Gebäude der alten Tischlerei entstanden Appartement-Wohnungen. Wo einst Kreissägen sangen und Hobelmaschinen kreischten, geben HiFi-Anlagen den Ton an. Das Mehrfamilienhaus inklusive ABV-Büro wurde abgerissen. Jetzt überspannt an dieser Stelle ein Carport ganze drei Autos. Im Abfüllgebäude der Brauerei füllen zwei Familien samt ihren Möbeln den Raum aus. Hennigs Kolonialwaren-Laden hat sich in eine geräumige Doppelgarage gewandelt. Die Werkstatt vom Herrn Henneberg beherbergt ein Auto und zwei Fahrräder.

Die zu den „Bahnerhäusern“ gehörenden Kleingärten verwildern zusehends. Wie Ausgrabungsstätten erinnern Fundamente abgetragener Lauben an vergangene Sommerfreuden. Im „Lindeneck“ schäumt es schon lange kein Bier mehr aus dem Zapfhahn. Die Luke zum Bierkeller ist mit einer Spanplatte vernagelt. Von der Poststelle wurde der Eingang zugemauert. Der einstige Schalterraum dient heute als Kinderzimmer. Auch Lenz’ Bäckerei wurde zum Wohnraum umfunktioniert. Über das Grundstück der Blumenbinderei weht der Wind des Vergessens. Nachdem dessen Nachbarhaus vor über 60 Jahren einer Fliegerbombe zum Opfer fiel, erlag nun auch das Blumenhaus dem Verfall. Hinter grünem Maschendrahtzaun wachsen statt Blumen Gras und Unkraut. Nach einem kurzen Dasein als Spielhalle und einem Intermezzo als Pizzaladen, steht Frau Andersons Lebensmittelladen heute leer.

Die Radio- und Fernsehwerkstatt im Nachbarhaus existiert schon lange nicht mehr. Auf der anderen Straßenseite flimmert abends im umgebauten Schreibwarenladen der Fernseher. Wo einst die Kasse klingelte, röhrt jetzt ein Nachrichtensprecher seine Texte über die Lautsprecher. Das Schaufenster der Fleischerei dient verblühten Geranien zum Winterquartier. Hinter dem Tor der Feilenhauerei übernachtet ein Auto. Nebenan säumen fünf hellblaue Garagentore die Straßenfront und bieten ihren vierrädrigen Mietern ein Stelldichein. Sämtliche Gebäude der Stadtwirtschaft sind dem Erdboden gleichgemacht, sie dienen zig farbenfrohen Automobilen als Stellplatz. Trotz der vielen Kraftfahrzeuge gibt es in der „WILLI“ schon ewig kein Benzin mehr. In der einstigen Großgarage hat der gesamte Fuhrpark einer Reinigungsfirma Einzug gehalten. Auf dem Handwerkerhof der „PGH-Ausbau“ stehen sich Baufahrzeuge die Reifen platt. Die gelbe Mauer am Ende der Straße wurde durch Maschendrahtzaun ersetzt. Der vor dem Zaun verlaufende Fußweg bietet bis zu dreißig parkenden Autos Platz. In der fensterlosen Ruine des Hotels „Drei Schwäne“ logierten in den vergangenen Jahren Tauben. An einem sonnigen Herbsttag löste die Abrissbirne diese Herberge in Luft auf.

Mit einfachen Spanplatten wurde der Wasserturm unlängst gegen Taubenbefall gesichert. In diesem Zusammenhang haben fleißige Hände auch die rostige Seilwinde entfernt, deren Umrisse mich seit der Kinderzeit an eine Taube erinnern. Sechsundfünfzig Jahre saß die rostige Eisentaube zuverlässig am selben Fleck. Jetzt ist auch sie weggeflogen.






Rüdiger Paul

Hallorenkugeln

Leseprobe


„Das Leben in Merseburg ist wie eine Packung Hallorenkugeln, du weißt nie, wo du die nächste essen wirst.“ (Frei nach dem Film „Forrest Gump“)


Am Brunnen vor dem (Dom-)Tore

In der Kathedrale sind vor wenigen Minuten die letzten Töne der Ladegastorgel verklungen. Wieder auf dem Domplatz habe ich noch immer das vom Domorganisten variierte Thema von Gershwins „Summertime“ im Ohr. Sommerzeit 2017 in Merseburg.

In Gruppen ziehen Mauersegler, lauthals fietschend, um die Türme. Um die Musik noch etwas wirken zu lassen, setze ich mich auf die Bank vor dem Brunnen. Quer über den Platz schlendert eine alte Bekannte von mir. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Gesehen haben wir uns geschätzte zwanzig Jahre nicht. Freudig gehe ich ihr entgegen. Wir begrüßen uns herzlich. Anschließend lade ich sie ein, sich mit auf die Bank zu setzen und über die Zeit zu plaudern. Sie willigt ein, und da sitzen wir nun. Aus dem Rucksack hole ich eine Schachtel „Hallorenkugeln“. Ich öffne die Packung und biete ihr eine an. Sie meint: „Hmm, das sind ja die echten.“ So gelangen wir ins Gespräch über die Zeit, in der lediglich eine Sorte dieser Köstlichkeit hergestellt wurde. Hallorenkugeln eben.

Der Domplatz, das Schloßensemble und die Willi-Sitte-Galerie sind anfangs unsere Themen. Später kommen wir auf die Zeit zu sprechen, als in Merseburg das Volk erwachte und für seine Stadt auf die Straße ging. Bald stellte sich heraus, daß wir im Oktober 1989 unbewußt gleiche Wege gingen. In Leipzig stand sie ebenfalls ‒ vor der Nikolaikirche. Tausende sangen an jenem Abend die „Internationale“. Der Ernst der Lage in der Messestadt und der Text des gesungenen Liedtextes erzeugten in dieser gespannten Atmosphäre Gänsehaut. Auch heute noch. Das in Leipzig Erfahrene gab mir den Mut, der Einladung des „Neuen Forums“ und der Kirchengemeinde zum ersten Merseburger Montagsgebet zu folgen.

Meine Bekannte schilderte mir ihre Vorbehalte, daran teilzunehmen. Gleichzeitig erfuhr auch sie eine innere Befreiung, aufgestanden zu sein, um etwas zu verändern. Genau an dem Tag hatte ich meine Eltern überzeugt, mit zum Montagsgebet zu kommen. Gemeinsam saßen wir im Dom. Wir drei waren ein Teil des Protestes. Ein neuer Geist umfing einen Teil der Menschen, man sah es ihnen an. 201 Die Redner der Kirche und des „Neuen Forums“ schenkten den Anwesenden Kraft, Berührungsängste zu überwinden. Sie gaben uns allen die Zuversicht, in der turbulenten Zeit nicht alleinzustehen. Funktionierende Staatskräfte mühten sich, um ihrer selbst willen, den laufenden Prozeß aufzuhalten. Der Protestmarsch ist uns beiden noch in Erinnerung. Nach dem Montagsgebet strömten die Menschen aus dem Dom, formierten sich und zogen schweigend in Richtung Bahnhof. Flackernde Fackeln und Kerzen erhellten die Gesichter der Menschen, zeigten ihre Friedfertigkeit. Vor dem Stasigebäude in der Poststraße kam der Zug ins Stocken. Man stellte Kerzen auf die kalten Stufen am Haupteingang. Als das Wachs schon auf die Stufen tropfte, wurden im Gebäude dienstbeflissen seitenweise Berichte in die Schreibmaschinen geklimpert und „gewissenhaft“ in Dossiers abgelegt. Unser Licht leuchtete mit all den anderen. Ich hatte nur einen Wunsch, die aufgestellten Kerzen mögen nicht erlöschen. Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Durch das Gebäude streift der Wind. In mir ist bis heute das Licht der Wendezeit.

Dieses Licht erhellt mich. Wir fühlen uns in jene Zeit zurückversetzt, auch meine Bekannte spürt die Energie noch immer. Dieses freie Gefühl der Wendezeit. Dann fragen wir uns, was daraus geworden ist. Sie meint: „Schau uns an, sind wir unglücklich?“ „Gute Antwort“, sage ich. „Mit allem zufrieden bin ich sicher nicht. Habe gelernt, Dinge abzulegen, die mich am Sein hindern. Das Grundgefühl in Blick auf mein Leben ist Glück. War es das nicht vordem auch so?“ „Sicher“, sagt sie. „Wir haben uns bewegt, unsere Ehrlichkeit über diese Zeit gerettet, können mit gutem Gewissen geradeausschauen.“ Dem habe ich nichts hinzuzusetzen. Weich wie Kerzenwachs sind nun auch die restlichen Hallorenkugeln in der Packung. Da die beiden gestutzten Platanen es nicht schaffen, die Bank ausreichend zu beschatten, verschwindet die Packung im Rucksack. Wir verabschieden uns, für eine hoffentlich nicht so lange Zeit.


Der Saalealf war auch dabei

Am Rande des Marktes finde ich auf der Bank neben dem „Saalealf“ ein schattiges Plätzchen. Die Turmuhr gibt zwei gedämpfte Stundenschläge frei. In Ruhe genieße ich die 3. Hallorenkugel. Oh ja, der Markt hat in der turbulenten Zeit nach 1989 eine wichtige Rolle gespielt. Auf geruchstechnischer Basis standen sich die Chemiekombinate „Leuna“ und „Buna“ in nichts nach. Als Synonym dafür stand das Wort „Chemie-Mief“. Am 13. Januar 1990 fand auf dem Merseburger Marktplatz die erste Umweltdemo statt. Deren Teilnehmer formierten sich am Bahnhof, vor dem Dom, rund um die Sixtiruine und am Eingang der Gotthardstraße. Ein Sternmarsch brachte erstmals zehntausend Demonstranten auf dem Markt zusammen. Bürger verschafften sich Gehör, wollten eine Verbesserung der Umweltbedingungen erstreiten.

Am östlichen Ende des Marktes saß zu der Zeit schon der „Saalealf“ auf dem Brunnenrand. Sein Gewässer, die Saale, war schließlich ein flüssiger Bestandteil dieser Umweltkatastrophe. Die Redner hielten keine verordneten Sonntagsreden, sie brachten den Ernst der Situation unumwunden auf den Punkt. Es ging hierbei nicht um eine Handvoll Staub, welche über die grauen Dächer wehte. Zur Kundgebung benannten die Sprecher vom „Neuen Forum“ gemeinsam mit Umweltaktivisten erstmals öffentlich die Fakten einer Katastrophe. Den Studien zufolge schwängerten die Chemiewerke und Brikettfabriken im Kreis Merseburg die Luft mit jährlich 100.000 Tonnen Staub. Durch die Schlote der Werke gelangten 32.600 Tonnen Schwefeldioxid und je 18.000 Tonnen Stickoxide und Kohlenmonoxid in die Atmosphäre. Hinzu kam, daß zum Heizen Braunkohle genutzt wurde. Zusätzlich verpesteten ungefiltert emittierte Abgase die Luft. In der heutigen Zeit unvorstellbare Größenordnungen und Zustände! Den Aufruf, für eine Verbesserung der Umweltbedingungen zu demonstrieren, verfolgten die Bürger der Stadt mit Ernst und Kreativität. Selbstgestaltete Transparente brachten zum Ausdruck, was die Menschen bewegte. Eigens für die Demo gestalteten wir in unserem Waschhaus Banner. Auf meinem Spruchbanner war zu lesen: „HERR UMWELTMINISTER ES REICH(EL)T !“ (Reichelt hieß der 1990 amtierende DDR-Minister für Umwelt.)

Heute, siebenundzwanzig Jahre nach der Kundgebung, sind die Spruchbanner im Fundus des Museums  eingelagert. Eine Ausstellung im Merseburger Schloß erinnerte an die Wendezeit. Neben Bildern und Dokumenten wurden Demo-Transparente gezeigt. Liest man die eindringlichen Botschaften auf den Spruchbändern heute, spürt man, daß es am Tag der Demo bereits fünf vor zwölf war. Wer sich das Gefühl bis heute erhalten hat, weiß, wie zerbrechlich dieses Gut ist.

Merseburg ist als Stadt bei den Bürgern angekommen, nicht nur zum Schlafen zwischen den Schichten, sondern zum Leben nach dem Erwachen. Auf der Saale wird wieder gepaddelt. Die Wunden, welche der rücksichtslose Abbau von Braunkohle der Landschaft zugefügt hatte, wurden rekultiviert. Eine Seen-Landschaft ist entstanden. Radwege verbinden die Stadt mit der Natur, lassen die Menschen unterwegs ihr Umfeld erkunden. Die Merseburger sagen wieder: „unsere Saale“. Ganz aufmerksame Augen sehen schon mal in den quirligen Fluten des Flusses den „Saalealf“ auftauchen.


Weihnachtseinkauf im Zelt

Dieses Mal ist es keine Bank, sondern ein Schaufenstersims vomMüller-Kaufhaus. Nach dem Verzehr der 4. Hallorenkugel durchwandern meine Gedanken die Gotthardstraße. Glich doch der östliche Abschnitt der Straße 1990 einem Ruinenfeld. Der Platz hinter dem Kaufhaus Dobkowitz ließ, fünfundvierzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg,  deutlich Schäden der Bombenangriffe auf Merseburg erkennen. Unglaublich! In Geschäften hinter grauen Fassaden versorgten sich die Merseburger mit den Dingen des täglichen Bedarfs. Zur Wendezeit schlug eine Baumarktkette auf dem zerfurchten Platz neben dem „Heimwerker“ ihr Warenzelt auf. Bot feil, was das Heimwerkerherz begehrte. Schräg gegenüber, direkt neben der Eisdiele, hatte der „Extra Markt“ seine Zelte aufgebaut. In einer Art Bierzelt wurden Lebensmittel verkauft. Dort besorgte ich den Teil des Weihnachtseinkaufes. Anschließend ratterte ich mit einem gefüllten Einkaufswagen über das rutschige Schlackepflaster der Gotthardstraße. Auf dem matschigen Parkplatz neben meinem Trabbi parkte ein russischer Militärjeep. Vor der Kühlerhaube des Fahrzeugs stand ein Soldat sich die Beine in den Bauch. Er wartete gewiß auf den russischen Offizier, der mir vordem im Warenzelt begegnet war.

Bilder der Trostlosigkeit meines eigenen Soldatenalltags in der NVA gingen mir durch den Kopf. Auch kannte ich die Medizin, die uns Soldaten über so manchen in einer Kaserne verbrachten Feiertag tröstete. Aus dem Grund übergab ich dem Soldaten kurzerhand ein Bier gefülltes Partyfaß sowie eine Schachtel Zigaretten. Darüber sichtlich überrascht handelte er sofort. Er verstaute die Schätze hinter den Sitzen des Geländewagens. Nach gegenseitigem Zunicken stand er in der gleichen Pose wie vordem neben dem Jeep. Eine leichte Vorfreude auf den Genuß der soeben erhaltenen Dinge war jedoch kaum zu übersehen. Wir grüßten uns noch mal kurz, und ich knatterte mit dem Trabbi demWeihnachtsfest entgegen. 

Jetzt, im nachhinein, bin ich der Meinung, warum eigentlich Bier und Zigaretten? Hallorenkugeln hätten es auch getan.


Good Bye Lenin

Die Bank meiner Wahl steht am östlichen Ufer des Gotthardteiches. Die 5. Hallorenkugel ist ein willkommener Pausensnack. Kaum zehn Meter entfernt von der Bank stand seit 1971 auf einem sechs Meter hohen Porphyrsockel das bronzene Lenindenkmal. Ein sechzehn Tonnen schweres Geschenk der baschkirischen Partnerstadt Ufa. Alljährlich zur Maidemo tummelten sich auf der aufgestellten Tribüne in Lenins Schlagschatten teure Genossen sowie Angehörige der Kampfgruppen, der NVA und der deutschen Volkspolizei. Anläßlich des „Kampftages der Werktätigen“ liefen die Bürger der Stadt mit Marschmusik und Hochrufen an dem, in rotes Fahnentuch gefaßten Postament vorbei.

Dieser Spuk wurde nach zwanzig Jahren endgültig beendet. Demokratisch beschloß man im Stadtrat, das Denkmal zu entfernen. So geschah es. Ein Kran hievte mit kräftigen Stahlseilen den bronzenen Wladimir Iljitsch Uljanowsk, alias Lenin, vom Sockel und bettete ihn auf einen Tieflader. Mit Spanngurten auf der Ladefläche verzurrt, lag er da wie Gulliver im Zwergenland. Der an den Schlaf der Welt rührte, wurde zur vorerst letzten Ruhestätte in einem Hangar des Merseburger Flugplatzes überführt.  Später wurde er nach Holland verkauft. Derzeit steht Lenin in einem Skulpturenpark im niederländischen Kurort Bad Nieuweschans.

Ähnlich erging es dem Fliegerdenkmal am hinteren Gotthardteich, keine fünfhundert Meter von hier entfernt. Auf einem angelegten Hügel erhob sich ein etwa acht Meter hoher Betonsockel in den dauerdunstigen Merseburger Himmel. Am oberen Ende montierten verdiente Denkmaldesigner einen ausgemusterten Düsenjäger der sowjetischen Luftstreitkräfte. Dessen Rumpf und die Tragflächen zierten, weithin sichtbar, rote Sterne. Ihm schien im Eifer der Gefechte die Puste ausgegangen zu sein. Offiziell nannte man dieses Gebilde „Monument der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“. Seit 1975 versah der Oldtimer symbolträchtig den Ehrendienst in luftiger Höhe. Ein Autokran verhalf nach dem Abzug der sowjetischen Truppen der „Friedenstaube“ zu einem letzten schwerelosen Schwenk über den grünen Hügel. Schrottcontainer beendeten das Intermezzo in Merseburg. Blumen blüh’n, Gras wächst, Laub weht, Schnee fällt. Kinder rodeln ...


König Heinrich

Auf einer Bank an der Klia vernasche ich die 6. Hallorenkugel. Direkt hinter mir steht die Statue König Heinrichs I. auf dem Sockel. Ein stiller Zeuge. Was aber hat der Gründer Merseburgs mit der Wende zu schaffen?  Der Wert des Geldes wurde zu König Heinrichs Zeiten gewogen. Der Standplatz des Denkmals gibt den Blick auf das hinter der Kliabrücke gelegene Backsteingebäude frei. Der dunkelrote Gebäudetrakt beherbergte bis zur Wendezeit die Merseburger Sparkasse. Im Tresor der Sparkasse hatte bis dahin der größte Teil der Merseburger Bevölkerung sein Geld in Verwahrung. An den Schaltern wurde das Geld allerdings gezählt. Zur Währungsunion im Juli 1990 mischten die deutschen Banker die Karten neu. Bis zu einer Summe von 2.000 (Kinder), 4.000 (Erwachsene) oder 6.000 (ab einem Alter von 60 Jahren) DDR-Mark war es möglich, das Geld zu einem Wechselkursus von 1:1 in DM umzutauschen. Für darüber hinausgehende Guthaben bekam man nur die Hälfte vorgezählt. Der König wunderte sich sehr. „Hatten die Oberen doch ohne einen Schuß Pulver ein ganzes Reich erobert. Das Volk reiht sich in Warteschlangen, um an seyn eigen Geld zu gelangen.“ Drei- bis vierhundert Sparer zählte dann schon mal so eine Wartegemeinschaft. Diese „Sparerkette“ begann am Bankschalter, führte hinaus auf die Bahnhofstraße, schlängelte sich über die Kliabrücke und endete zu Füßen König Heinrichs I. Geld ist es, worum die Welt sich dreht, das sieht auch unser König Heinrich, in Stein gemeißelt, mit einem Augenzwinkern. 


Vorplatz der Sensationen

Vor dem Merseburger Bahnhofsgebäude sitze ich direkt neben der Blumenrabatte auf einer Bank. Zeitlos schmeckt sie, die Hallorenkugel Nummer 7. Die Währungsunion war noch nicht vollzogen. Auf dem Bahnhofsvorplatz machten sich an den Wochenenden fliegende Händler breit. An Camping- und Tapeziertischen boten sie ihre Waren an. In den alten Bundesländern eingekauft, dem Gesetz der freien Marktwirtschaft folgend zu überteuerten D-Mark-Preisen wieder verkauft. Hier fand man Dinge, die bei den Leuten begehrt und in Mengen gut zu transportieren waren. Über die improvisierten Ladentheken gingen Dosenbier, Joghurt, Bananen, Kiwi, Spielzeug, Walkmen, Coca Cola, Digitaluhren und viele andere derlei Sachen. Später fanden auf dem Gagarinplatz regelrechte Krammärkte statt, hier wurde alles verramscht, was sich zu Geld machen ließ. Parallel dazu entwickelte sich der Bahnhofsplatz mehr und mehr zum Sammelort für Werbefahrten.

In aller Frühe bildeten sich Trauben von vorwiegend reiselustigen Rentnern und Vorruheständlern. Spät abends fielen sie dann, durch die enge Sitzhaltung gehandicapt, übermüdet auf den Busbahnsteig, froh, wieder in Merseburg zu sein. Von den Reisezielen haben sie nicht so viel sehen können, da die Verkaufsveranstaltungen den großen Teil ihrer Zeit in Anspruch nahmen. Es gehörte zum abendlichen Straßenbild, daß die Beworbenen wie Packesel beladen nach Hause trabten. Zu den Favoriten gehörten Lamadecken, Topfsets, Besteckkästen und Massagekissen. Unterwegs erworbene Salben, Tinkturen, Wundersteine und Magnetarmbänder nahmen die Reisenden als Trophäe mit nach Hause. Alles Dinge, welche bis dahin kein Mensch vermißt hatte.


Der russische Bär

 Vor der Ausstellungshalle des Merseburger Luftfahrt Museums sitze ich auf einer Bank. Die Landschaft hier draußen bietet freien Raum für Gedanken. Direkt über mir singt eine Lerche ihr Lied. Aus der Pralinenpackung genehmige ich mir die Hallorenkugel Nummer 8. Auf der Freifläche rings um das Museum „grasen“ unweit vom „Starfighter“ der Bundeswehr russische Jagdflugzeuge. In Sichtweite stehen Ballonreifen ziviler Luftfahrzeuge im Grün. Im benachbarten Hangar lagert der Pferdesportverein Heu für die Tiere ein. Auf der Koppel galoppieren Reitpferde mit wehender Mähne. Johann Sebastian Bach setzte die fried- und vertrauensvolle Stimmung in der Kantate „Hier können Schafe friedlich weiden“ musikalisch um. Dem war nicht immer so. 1925 als Segelflugplatz erschaffen, begann 1933 die militärische Nutzung des Geländes. Ab 1935 war auf dem Terrain ein Kampfgeschwader der Deutschen Wehrmacht stationiert. Am 12.04.1945 nahmen amerikanische Truppen den Flugplatz ein. In den Jahren 1945 bis 1991 wurde das Flugplatzgelände von der Sowjetarmee genutzt. Ringsum von Stacheldrahtzäunen eingefriedet, wurde es mit scharfem Schuß bewacht. In dieser  Zeit war der Flugplatz für die Merseburger tabu. Vierzig Jahre steppte auf dem Terrain der russische Bär. Allgegenwärtig für die Anwohner war der Knall, wenn ein Kampfjet die Schallmauer durchbrach. Vergleichbar mit dem abschließenden, dumpfen Donnerschlag bei einem Großfeuerwerk. Extrem schrille Töne erzeugte das Warmlaufen der Turbinentriebwerke. Die Umgebung von Merseburg-West versank in ohrenbetäubendem Lärm. Selbst Heiligabend ließen sie ihre Säbel rasseln. Schickten dröhnend ihre Kampfflugzeuge in den trüben Himmel. Nach der Wende verunsicherte die Präsenz der „Russen“ die Bürger. Keiner hatte eine Vorstellung, wie die Sowjetarmee in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands handelt. Und nun das. Am 02.03.1991 wurde für einen Tag der „Eiserne Vorhang“ gelüftet. Alle Einwohner unserer Stadt lud man zu einem Tag der offenen Tür ein. Kaum zu fassen, der „Große Bruder“ öffnete die Pforten. Offen wie eine Schachtel Pralinen präsentierte er die Flugzeughallen. Engelsflügelgleich zeichneten sich die tonnenschweren Tore von den Hügeln der Hangars ab. Kampfhubschrauber, Transportflugzeuge und Düsenjäger präsentierte man, als ob es die normalste Sache der Welt sei. Kinder fuhren mit Pferdekutschen, ritten auf Ponys quer über das Flugplatzgelände. Die Weltordnung schien an jenem Tag ordentlich durcheinander gerüttelt. Versteht! Ein Russenflugplatz ist kein Pingpong-Keller. Schon gar keine Kulisse für einen Indianerfilm. Überraschenderweise hatte der Streifen für alle Merseburger ein Happy End.  Die russische Garnison zog endgültig ihre Truppen ab. Aber kaum waren die Kasernen geräumt, nutzte die Bundeswehr das Gelände. Mit einer groß angelegten Werbeveranstaltung bewarb man Rekruten für den aktiven Wehrdienst. Erneut ratterten Panzerketten über das geschundene Pflaster der Kaserne, prägten Muster das harte Gestein. Mündige Bürger standen vor Militärfahrzeugen der Bundeswehr. Mit Selbstverständnis setzten sie Panzerhauben auf, schauten sich die gerade gewonnene Freiheit durch trübe Winkelspiegel von „Leopard“- Panzern an. „... wann wird man je versteh’n?“


Zufriedenheit + Fischbrötchen = Wende

Eine Bank werde ich hier wohl nicht finden, also setze ich mich auf die Eingangsstufen der Teich-Apotheke. Mit Freude lasse ich mir die 9. Hallorenkugel schmecken. Was hat denn die Klobikauer Straße mit der Wende zu schaffen? Eigentlich hat jeder Mensch, jede Wohnung, jeder Platz in Merseburg Hunderte von Wendegeschichten. Meine Wende begann hier schräg rüber bei „Toppschüttel“. Besser gesagt, in der Gaststätte „Zur Zufriedenheit“.

Am 9. November 1989 saß ich mit ein paar Freunden bei „Toppi“. Die Kneipe war knackevoll. Eine Skatrunde war angesagt. In der Spätherbstzeit natürlich mit dunklem Bockbier vom Faß. (Gab es so nur hier.)  Was ist eine Skatrunde ohne Tagespolitik. Alles wurde ausgewertet; Leipzig, Merseburg, Moskau. Weltpolitik also. Hier kamen die, welche am Montag noch in Leipzig vor der Nikolaikirche demonstriert hatten. Aber auch jene, die immer hier saßen und am liebsten alles so gelassen hätten. Es wurde diskutiert, angeprangert, geschimpft, getrunken. Und, nicht zu vergessen, es gab die legendären Fischbrötchen. Das Rezept: Ein Brötchen vom Bäcker Baumann Ein sauer eingelegter Hering, Zwiebelringe, saure Gurke. Fertig. Der Preis: 25 Pfennige. Klingt eigentlich unspektakulär. Aber, wer noch nie bei „Toppi“ mit Appetit in ein hausgemachtes Fischbrötchen gebissen hat, der kann nicht mitreden. Was hat nun ein Fischbrötchen bei „Toppi“ mit der Wende zu tun?

Ich konnte zu so später Stunde nicht ahnen, daß das heutige Fischbrötchen das letzte in der alten DDR sein wird. Denn nun kommt’s. Als ich mit Fischbrötchen und besagtem Bockbier im Bauch zu Hause ankam, schaltete ich den Fernsehapparat ein. Auf der Mattscheibe verkündete der ARD-Nachrichtensprecher mit Verweis auf eine laufend wiederholte Filmsequenz, daß die Grenze in Berlin offen sei. „Sudel-Ede kneep mir mal.“ Immer und immer wieder die Sätze von Schabowski: „… haben wir beschlossen, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen …“ Dann die Bilder. Zu der Zeit versammelten sich in Berlin am Übergang Bornholmer Straße Hunderte Menschen, um nach Westberlin zu gelangen. Die Grenzer waren absolut überfordert. Unerwartet wurde der Schlagbaum geöffnet, und eine Lawine freudiger Menschen strömte durch die Mauer. Spontan übertrug sich ein Glücksgefühl, drückte mir Freudentränen in die Augen.

Am nächsten Abend war es aus mit der „Zufriedenheit“. Sie war wie ausgefegt. „Die meisten sind noch gestern nach Berlin gefahren“, erklärt der Wirt und blickt über die verwaisten Tische in der Gaststube. Am folgenden Samstag war es auch für uns soweit. Meine Frau, unsere Tochter und ich, wir hatten uns in überfüllte Züge gepreßt und waren wie Öl-Sardinen in Berlin angekommen. Am Bahnhof Friedrichstraße gab es an einem quadratisch nüchternen Sprelacarttisch einen Stempel in den Ausweis. Und ab durch die Mauer. Mir fiel auf, daß die Ein- und Ausreisebereiche nur mit einer dünnen, roten Kordel voneinander abgetrennt waren. Dieser gedrehte Bindfaden ersetzte momentan die Grenze zwischen Ost und West. War Mauer, Selbstschußanlagen, Wachtürme, Hundestaffeln, Stacheldraht und Schießbefehl in einem.

Mit einem Doppelstockbus fuhren wir in den Berliner Stadtteil Neukölln. Nach so einer strapaziösen Anreise meldete sich mein hungriger Magen. Was lag näher, als sich vor dem Karstadt Kaufhaus am Herrmannplatz an einem Stand ein Fischbrötchen zu kaufen. 215 Das Rezept: Ein Brötchen vom Karstadt-Bäcker Ein Bismarck-Hering, Zwiebelringe, Saure Gurke, Salatblatt. „Dette macht drei fuffzich, junga Mann“, berlinerte der Fischbrötchenverkäufer aus der Luke des Standes. „Hui, ein stolzer Preis“, dachte ich. Ob Fischbrötchen bei „Toppschüttel“ oder am Karstadt Kaufhaus, das konnte ab jetzt jeder für sich entscheiden. „Wer das eine will, muß das andere mögen.“


 

Lehrstunde in der Albrecht-Dürer-Schule

In Ermangelung einer Bank zieht es mich vor dem Haupteingang der Albrecht-Dürer-Schule erneut auf die Stufen. Mit der 10. Hallorenkugel verbinden mich zehn Jahre Schulunterricht. Hier war ich von 1965 bis 1975. Wo ich lernte, das blaue Halstuch trug, im Schulchor sang, den Schulgarten umgrub, in der Sportprüfung das erste Mal über den Kasten sprang. Hier begriff ich Literatur. Der grenzenlose Globus, meine Welt. Astronomie warb mit der Unendlichkeit. Wer sollte das verstehen. Kunst begeisterte mich als Unterrichtsfach. Chemie und Physik erzeugten in mir eine Feuerzangenbowlen-Atmosphäre. Es entstand eine Schulfreundschaft fürs Leben. So unterschiedlich und vielfältig die Erinnerungen an das Schulleben auch waren, so gespannt war ich im Jahr 1990 auf den Ausgang der Volkskammerwahl. In der Dürerschule gestaltete man Klassenzimmer zu Wahllokalen um. In einer der aufgestellten Kabinen füllte ich am 18.03.1990 den Stimmzettel zur ersten freien Wahl aus. Ein bewegender Moment. Jeder, der an dieser Wahl teilgenommen hatte, immerhin 93,4 % der wahlberechtigten Bürger, wird sich daran erinnern können. Eine Vielfalt von Parteien und deren Vertreter waren Ausdruck der kürzlich erlangten Freiheit. Nach den turbulenten Wochen vor und nach dem Mauerfall war ich am Tag der Wahl natürlich ein Kind meiner Erwartungen. Gewiß war, daß ich, wie nach meiner Einschulung, keine Zuckertüte mit nach Hause nehmen werde. Ein Fingerzeig, wohin die Reise ginge, zeichnete sich im Wahlergebnis deutlich ab. Das Bündnis 90, vor vier Monaten noch Mittelpunkt und Initiator der Wendebewegung, bekam nur 2,9% der Stimmen. Nach dieser Wahl kam es mir vor, als hätte es diese Bewegung mit all den starken, mutigen Menschen nicht gegeben. Wie in einem schlechten Traum nahm die Wirtschaft das Heft in die Hand und setzte uneingeschränkt das Geld auf den Thron. Eine bittere Pille. Deren Nachgeschmack vermochte keine Hallorenkugel zu neutralisieren. Auf der Gartenbank in der „Willi“ Die letzten beiden Hallorenkugeln gebe ich meinen Enkeln. Wir sitzen in der „Willi“ auf der Gartenbank. Was soll ich sagen? Hatte der alte Nußbaum 1989 mehr Nüsse getragen als in den Jahren danach? Hier im Garten gelten Naturgesetze. Äpfel fallen immer noch nach unten. Gott läßt die Bäume nach wie vor nicht in den Himmel wachsen. Denkmale, Demos, Menschenschlangen, Geld, Besitz sind an diesem Ort fehl am Platze. Der Igel dreht seine nächtlichen Runden durchs Revier. Katzen fangen Mäuse, Bienen sammeln Nektar, und die Mauersegler sausen von Mai bis August fietschend um die nunmehr roten Dächer. Wieder würde ich nach Leipzig fahren. Im Dom das Neue Forum entdecken, an Umweltdemos teilnehmen, eine Kerze auf die Treppe in der Poststraße stellen, dem Russen ein Partyfaß schenken. Jeder einzelne ist bestimmt von seinen eigenen Gedanken und Erfahrungen rund um diese, unser Volk bewegende Zeit. Mögen die Momente noch so unscheinbar wirken, so sind sie doch untrennbar miteinander verbunden. Eine neue Generation nimmt Fahrt auf. Habt Vertrauen.

Quellenangabe: "Herbst 1989 in Merseburg" Herausgeber: Förderkreis Museum Schloss Merseburg e.V.

Rüdiger Paul

Jesuslatschen Größe 42

Leseprobe vom Beginn der Pilgerwandertung



„Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;

Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;

Der Augenblick ist mein,

und nehm’ ich den in acht,

So ist der mein,

der Jahr und Ewigkeit gemacht.“

-Andreas Gryphius-


Der Augenblick … darauf kommt es an. Im Augenblick zu gehen, sich treiben zu lassen. Das zu verarbeiten, was man gerade sieht und erfährt. Nicht wissend, was sich hinter der nächsten Wegbiegung verbirgt. Es macht neugierig den Sinn und Zweck zu erkennen. Man spürt, dass die Gedanken draußen in der Natur eigene Wege gehen. Sie führten näher an das Wesen, lassen frei. Welch eine Energie und Kraft es ist, allein mit sich und seinen Gedanken in der Natur zu gehen.

Geprägt haben dieses Bild unter anderem verschiedene Romane von Hermann Hesse. Die Romanfiguren schildern unterwegs die herrlichen Landschaften anschaulich und fabulieren dabei über Gott und die Welt. Diese Kameraden geben Einblicke in Entwicklungen, welche sich auf der Lebensreise in jedem Menschen vollziehen. Vom Jakobsweg habe ich bis dahin noch nichts gehört. Das Interesse für diesen Weg wird auf Umwegen geweckt. Den Anfang bereitet „Der Alchimist“ von Paulo Coelho. Dieser Roman enthält so viele Verknüpfungen und Parallelen zu meinem neuen Leben, dass ich von den Büchern dieses brasilianischen Schriftstellers schlecht lassen kann.

Wenn man in dem Zustand Geburtstag hat, liegt es nahe, dass dir deine Liebe Coelho schenkt. Das Buch trägt den Titel „Auf dem Jakobsweg“. Es verzaubert schlichtweg, zieht mich in seinen Bann. Jedes einzelne Kapitel lässt den Helden des Buches Mensch sein. Jedes dargestellte Exerzitium trägt eine Aussage in sich, diese versuche ich allmählich nachzuvollziehen. Bilder, Mythen, Vorstellungen entstehen und geben viel Raum für neue Ansätze und Betrachtungsweisen. Die Suche des Schriftstellers nach dem Schwert wird zur Metapher und lässt mich einfach nicht mehr los. Ist er sich anfangs sicher das Schwert zu besitzen, wird er doch eines Besseren belehrt. Nach dieser Lektüre kommt eine Zeit der Verinnerlichung des Gelesenen. Ein Entschluss ist gereift und endgültig: „Ich werde diesen Weg gehen.“ Sobald man mit so einem entschlossenen Satz an die familiäre Öffentlichkeit tritt, wird es ernst. Wenn noch dazu Weihnachten und der Geburtstag nahen, ich bin im Sternzeichen des Steinbocks geboren, liegt es auf der Hand, Reisebeschreibungen und Material über den Jakobsweg geschenkt zu bekommen. Weniger wäre unter Umständen mehr gewesen. Es ist nicht unbedingt notwendig, im Vorfeld alles über Pilger, Landschaft und Natur zu erfahren. Das Blickfeld wird dadurch eingegrenzt. Man sollte den Speicher frei haben, um es einfach selbst zu erleben. Eigene Fantasien entwickeln sich im Kopf. Verschiedene Streiflichter einer Filmdokumentation über die „Via Regia“ spuken schon einige Jahre in meinen Gedanken herum, Eindrücke von dieser Europa durchquerenden Handelsstraße. Einige Bilder haben sich bereits beim Ansehen für immer festgesetzt und Vorstellungen geweckt. Die Tatsache, dass dieser bedeutende Handelsweg auch durch meine Heimatstadt Merseburg führt, verstärkt in mir den Wunsch, selbst so einen Weg zu erwandern.


Leseproben -Episoden vom Jakobsweg


„Ich bin auch mein Körper.“


Der Rucksack liegt noch unversehrt im Versteck. Sicher hat er schon auf mich gewartet, denke ich. Braver Rucksack. Als Herberge dient das verwaiste Bürgermeisterbüro im ebenso elternlosen Rathaus. Ich bin getroffen, mir schläft fast das Gesicht ein als ich den Raum betrete. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, kein WC und kein Bett. Gottverlassen stehe ich mit einem großen grünen Rucksack in einem großen kühlen Raum. Stuhlreihen von wahllos abgestellten Kinostühlen, ein alter Schreibtisch und ein Horn alter Computer sind das leidliche Inventar meiner ersten Pilgerunterkunft. Um hier eine Schlafstätte zu errichten, ist viel Vorstellungsvermögen notwendig. Vier dreier Klappsitzreihen so gegeneinander gestellt, dass die Sitze unten bleiben, ist schon recht komfortabel. Noch einiges mehr an Erfindungsgeist fordert die Verrichtung der Notdurft. Und vor allem ist Eile geboten. Aus einem alten Geländer entsteht an der Felswand hinterm Haus ein funktionierender Donnerbalken. Ganz ohne OBI-Hilfe. Sichtlich erleichtert, setze ich die Arbeiten an der Innenausstattung fort. Ein leerer Druckerkarton ersetzt auf dem Bürgermeisterbalkon den Tisch und so esse ich im Abendrot endlich Abendbrot. Eine anheimelnde Gemütlichkeit strömt allmählich in den Raum. Mit vollem Magen und schwindendem Tageslicht sieht man die Dinge oft anders als man sie vorfand. Meine Gedanken wandern unwillkürlich in die Zeit, als hier in diesem Raum noch heftige Debatten und Reden geschwungen wurden. Heutzutage wird die Lokalpolitik im Konsum gemacht. Über die Köpfe von Onton entscheidet man jetzt sicher in einer Gemeindeversammlung einige Kilometer entfernt. Dort, wo kaum jemand die alltäglichen Belange der hier wohnenden Menschen wahrnimmt.   Als Dank für alle mir entgegengebrachten „Bequemlichkeiten“, halte ich mit einbrechender Dämmerung eine gestenreiche chaplineske Rede auf dem historischen Balkon. Niemand wird sie gehört haben, aber es war ein Heidenspaß. Nun liege ich fast heiser im Kinostuhlreihenhimmelbett und träume von „Lichter der Großstadt“.

Gute Nacht, Charlie Chaplin



Der Weg hinab in die Stadt Laredo, soll ursprünglich über jahrhundertealtes Originalpflaster führen. In Wirklichkeit ist es ein von einem Monstertrecker total zerfurchter Schlammweg. Eingesperrt gehört dieser wüste Bauer, der höchstwahrscheinlich für diese Kraterlandschaft verantwortlich ist. Auf den lehmigen Furchen bewege ich mich so, als wären Bleischuhe an den Füßen, wenn man hierbei noch von Bewegung sprechen kann. Endlich in Laredo angekommen, fühle ich mich einen halben Meter größer und zwanzig Kilo schwerer. Übertrieben gebückt, gehe ich durch das historische Stadttor in die Altstadt.

In den engen Gassen hängt tropfnasse Wäsche an den Häusern. Mopeds winden sich  knatternd  durch die Straßen. Die Stadt ist belebt,  Señioritas halten an einigen der  kleinen Geschäfte kurz inne betrachten die Schaufensterauslagen, um dann für längere Zeit der bunten Faszination einer Boutique einzutauchen. Heraus kommt dann meist eine andere Frau mit einer steifen Tüte in der Hand und einem sanften Lächeln im Gesicht.

Mich interessiert ab jetzt einfach nur noch, wo ich eine trockene Unterkunft bekomme. Das „Oficinal de Información de Turistica“ ist schon geschlossen. Durch die verspiegelte Türscheibe versuche ich mit einer, für mich unsichtbaren, Señora zu kommunizieren. Sie sieht mich zwar aus ihrem Büro heraus, aber ich kann sie von außen nicht sehen. Die Situation erinnert an den unterbrochenen Sichtkontakt im IC beim Abschied in Naumburg auf dem Bahnsteig.

Die innere Stimme aus der Spiegelwand versucht mir mit einigen klaren Worten eindringlich zu vermitteln, dass die Touristinformation nun geschlossen ist. Finito, Sense, Feierabend. Das klingt geradezu nach abwimmeln. Meine innere Stimme fordert geradezu, mich gegen diese Behandlung zu wehren. Die Stimme hinter dem sprechenden Spiegel soll einfach begreifen, dass ich heute in einer Pilgerherberge schlafen  möchte.

Erneut versuche ich, wenigstens einen winzigen Schatten zu erhaschen. Nichts tut sich. Mein eigenes verzerrtes Spiegelbild stets vor Augen. So siehst du also aus, Rüdiger Paul. In Gedanken tausche ich den Blick auf die Tür mit dem verspiegelten Plattencover der Uriah Heep LP „Look at yourself“. Wie oft haben sich im Spiegel dieser Plattenhülle meine eigenen Blicke getroffen. Wie fremd war ich mir manchmal und gleichzeitig nah. Musik ist das Medium, welches mich oft zu mir selbst gebracht hat. Ein Zauber der bis heute immer wieder auf seine eigene Weise wirkt. Nach zwei missglückten Anläufen öffnet sich endlich die Spiegeltür. Eine spanische „Milva“ steht vor mir, Belladonna. So viel Schönheit habe ich hinter dieser Tür nicht erwartet. Die Señora übergibt mir am Ende doch noch lächelnd und sehr graziös ein Faltblatt mit der Wegbeschreibung. Mir fehlen für einen Moment die Worte …

„Casa de la Trinidad“ heißt das ersehnte Zauberwort, es verspricht mir für diese Nacht Unterkunft. Nach ein paar Gehminuten stehe ich vor einer Kirche. Leider ist das Kirchenportal verschlossenen. An einem Seiteneingang wird mein Klingeln erhört und eine Novizin erscheint am Fenster. Nach Sichtung meines Pilgerpasses, bringt sie mich durch mehrere Räume und Flure in einen großen Schlafraum. Von den sechs Betten wähle ich eins als mein heutiges Nachtlager. Hier fühle ich mich wirklich aufgenommen und bin sichtlich erleichtert. Man spürt in diesem Raum eine Art Aufgeräumtheit und Abgeschiedenheit. Das belebende heiße Duschbad lässt die Dauerregenzeit des heutigen Tages schnell vergessen. Die sich ganz allmählich eingestellten Beschwerden werden aus der mitgeführten Reiseapotheke verarztet. Pflaster und Salben sowie Magnesiumtabletten sorgen für Linderung. An den Füßen werden Blasen und Druckstellen behandelt. Das Wäschewaschen und auslegen der gesamten Ausrüstung zum Trocknen, nehmen einige Zeit in Anspruch. Bis zum Einbruch der Dunkelheit, gönne ich mir einen sehr erholsamen Schlaf. Schweren Fußes begebe ich mich anschließend in die Altstadtgassen auf Nahrungssuche. Ursprünglich war meine Vorstellung einen bestimmten Pilgerbrunnen zu erwandern. Den Beschreibungen nach, soll aus diesem Brunnen Rotwein fließen. Mehr zu Werbezwecken eines ansässigen Weingutes, als zur Stärkung für die Pilger. Den Beschreibungen nach, soll aus diesem Brunnen Rotwein fließen. Mehr zu Werbezwecken eines ansässigen Weingutes, als zur Stärkung für die Pilger. Die Idee finde ich originell. Der Wunderbrunnen liegt aber direkt am „Camino Francés“. Von hier aus gesehen etwa einhundert Kilometer in Richtung Osten. Als echte Alternative für diesen Weinquell findet sich in der Altstadt eine gemütliche Bodega. Es ist sicher ein Zeichen ehrlicher Gastlichkeit, wenn Gäste so eine kleine Schänke regelrecht übervölkern. In diesem Lokal werden verschiedene Tapas angeboten. Leute stehen dicht gedrängt am Tresen, bis hinaus auf die Straße, trinken Wein, unterhalten sich lautstark, diskutieren und lachen. Mein Hunger ist gestillt, der Hauswein hat gemundet. Ein Becher Wein kostet in dieser Bodega übrigens vierzig Cent. Somit bin ich doch dem entfernten Werbebrunnen sehr nahe gekommen und habe dabei die Füße geschont. Zu später Stunde, vor der verschlossenen Kirche stehend, zücke ich schon so selbstverständlich, wie einen Haustürschlüssel, das überdimensionale Schlüsselbund. Die Gittertür vor dem Kirchenportal lässt sich mit einem großen Bartschlüssel öffnen, welcher schon die heiligen Kreuzzüge erlebt haben muss. Dann geht es durch eine Nebentür in den Kreuzgang. Von dort in die Gästezimmerabteilung und Schlüssel Nummer vier öffnet mir das Himmelreich für diese Nacht. Um 21:00 Uhr liegt Rüdi schon hinter vier Türen im Klosterbett. Nachts hält mich ein auf der Straße krakeelender junger Mensch wach. Direkt auf der anderen Straßenseite, dröhnt Musik aus einer Diskothek. Absolute Müdigkeit und das gleichförmige Schnarchen einer Ordensschwester im Nebenraum, lassen mich endlich wieder einschlafen.

Ruhe sanft, und hab Dank, liebe Schwester



Weit nach Sonnenuntergang gehe ich wieder zur Altstadt hinauf. Zu mitternächtlicher Stunde sitze ich auf einer Mauer an einer von Scheinwerfern angestrahlten Kirche, spüre Glück. Von hier oben kann man die gesamte erleuchtete Stadt überblicken. Am fast schwarzen Himmel erstrahlen die unzähligen Sterne der Milchstraße. Mein Wegweiser nach „Compostela“, was nichts weiter heißt als „Sternenweg“. Unsere Galaxis! Ein alter Mann kommt mit seinem Hund die verlassene Straße entlang. Ich stehe auf, gehe ihm entgegen. Als er mich ansieht und wir uns begrüßen, versuche ich ein Gespräch aufzubauen. Er bleibt stehen, hört zu, aber versteht mich nicht. Nun sprudelt es aus mir heraus. In deutscher Sprache teile ich ihm alle meine guten Gefühle mit, welche mich in dem Moment bewegen. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Sicher ähnele ich in dieser Situation dem Schnellsprecher José von unterwegs, egal. Der Mann sagt mir langsam und leise etwas auf Spanisch. Ich verstehe den Inhalt nicht wörtlich. Er scheint mir aber damit verstehen zu geben, dass er mich begreift, und dass er für diese kurze Zeit mein Glück teilt. Ich gehe noch ein Stück durch die Gassen, an einer Stelle hebe ich unvermittelt den Kopf, schaue an einer beleuchteten Wand Jesus direkt in die Augen. Zufall, dieser erneute Augen-Blick … „Streets of London“ Ralph McTell In der Herberge ist es schon dunkel, als ich die Tür aufschließe. Gérald liegt wach auf seiner Liege, wir begrüßen uns als hätten wir uns Ewigkeiten nicht gesehen. Vor dem Einschlafen lassen wir den heutigen Tag noch einmal Revue passieren. Vom Glück brauche ich heute nicht zu träumen, ich habe es.

Gute Nacht, Vater


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